© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Traditioneller Protest wird zum Freizeitvergnügen
Nordirland: Tagelange Ausschreitungen nach Oranjer-Märschen / Parteipolitiker beider Seiten distanzieren sich mit scharfer Kritik von den Unruhestiftern
Derek Turner

Während der „Marsch-Saison“ kommt es in Nordirland regelmäßig zu Unruhen. In den Tagen um den 12. Juli veranstalten nordirische Protestanten Umzüge zum Gedenken an die Heldentaten der 13 „Apprentice Boys“ in Derry (britisch: Londonderry), die 1689 König Jakobs katholischen Belagerungstruppen den Zugang zur Stadt verwehrten. Auch in Belfast und weiteren Städten beherrschen Marschkapellen, Trommler und Standartenträger mit orangenen Schärpen und anderen Emblemen ihrer Loyalität zur britischen Krone und zum Protestantismus das Straßenbild. Daß ihre Marschrouten teilweise durch katholische Viertel führen, ist seit jeher ein Zankapfel.

Insbesondere im „Grenz“-Stadtteil Ardoyne im Norden Belfasts kommt es immer wieder zu Zusammenstößen. Lower Ardoyne, der Geburtsort der amtierenden irischen Präsidentin Mary McAleese, ist katholisch, Upper Ardoyne (auch unter dem Namen Glenbryn bekannt) protestantisch. Seit Beginn der „Troubles“ 1969 sind vor allem in der Crumlin Road und ironischerweise der Alliance Avenue zahlreiche Menschen ermordet worden. Nachdem sich die Situation in der Folge des Karfreitagsabkommens von 1998 zunächst beruhigt hatte, häuften sich in den letzten Jahren erneut die gewalttätigen Zwischenfälle. Besonders häßlich ging es 2001 zu, als protestantische Anwohner katholische Mädchen, deren Schulweg durch „protestantisches“ Territorium führte, bedrohten, anspuckten und mit Urin bespritzten. Im selben Jahr kam es zu gegenseitigen Bombenanschlägen, 2009 zu Ausschreitungen rund um den 12. Juli.

Dennoch hatte niemand damit gerechnet, daß der katholische Stadtteil Ardoyne in Nord-Belfast nun zum Schauplatz schlimmer Unruhen werden würde. Eine Bombe in der Grafschaft Armagh, mutmaßlich ein versuchter Anschlag irisch-republikanischer Terroristen auf Polizisten, sowie Zusammenstöße bei traditionellen „11th Night“-Feuern in anderen Ecken von Belfast, bei denen sieben Protestanten, darunter zwei Kinder, verletzt wurden, als ein Auto in die Menge raste, hatten die Stimmung zusätzlich aufgeheizt. Am 12. Juli versuchte die Greater Ardoyne Residents‘ Col­lective (GARC) den Marsch durch die Crumlin Road mit einer Sitzblockade zu verhindern. Die Anwohner-Organisation bezeichnet sich als unpolitisch, läßt sich aber von radikalen Republikanern und Linksextremen unterstützen.

Randale durch Kinder und angereiste Gewalttouristen

Die Krawalle hielten vier Nächte lang an. Mehr als 80 Polizisten wurden verletzt, drei von ihnen erlitten Schußverletzungen, und auf eine Polizistin wurde von einem Hausdach ein Zementblock geschmissen. Laut Schilderungen von Polizisten, Lokalpolitikern und Priestern randalierten sowohl Kinder, von denen manche nicht älter als acht Jahre waren, als auch von außerhalb Angereiste zum „Freizeitvergnügen“, wie der Polizeichef kommentierte. In anderen Teilen Belfasts sowie in Derry und Lurgan kam es ebenfalls zu Ausschreitungen.

Politiker sämtlicher Parteien haben sich mit scharfer Kritik von den Unruhestiftern distanziert. In einer gemeinsamen Pressemitteilung verurteilten der Erste Minister Peter Robinson und sein Vize Martin McGuinness „Rowdytum und Vandalismus“ und reagierten damit auf Vizepolizeichef Alistair Finlay, der der Politik Führungsschwäche vorgeworfen hatte. Bereits 2009 hatte der damalige Polizeichef Sir Hugh Orde die Politik aufgefordert, endlich entschlossener gegen sektiererische Bestrebungen vorzugehen. Seither ist das nordirische Parlament mit der Ausarbeitung einer „Strategie zur Förderung des Zusammenhalts und der Integration“ beschäftigt. Im Februar einigte man sich auf die Eckpunkte. Das Dokument wird voraussichtlich bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

In dem Entwurf ist die Rede von einem „guten Verhältnis“ zwischen beiden Seiten, das man anstreben wolle. Anhänger der linksnationalistischen Sinn Féin aber werden auf der weitaus radikaleren Forderung nach „Gleichstellung“ beharren. Einige Protestanten stören sich wiederum an der säkularen Ausrichtung des Dokuments, wie der Großmeister der Oranier-Vereinigung Black Institution am 14. Juli zu verstehen gab: „Wir stehen vor einem sittlichen und geistigen Verfall, wenn Lehren aus der Bibel und sogar die Zehn Gebote im Namen von Gleichstellung und politischer Korrektheit mißachtet werden. Die Ursache beider Probleme läßt sich mit einem Wort benennen: Säkularisierung. Machen wir uns keine Illusionen über die Säkularisierung, sie ist die schwerste Herausforderung, die sich unseren Überzeugungen und unserer Lebensweise entgegenstellt.“

Im Rahmen der Sparmaßnahmen der neuen britischen Regierung (JF 27/10) wurden auch die Mittel für solche Projekte gekürzt. Womöglich wird man sich auf einen Wortlaut einigen, mit dem alle Parteien leben können – nur um dann feststellen zu müssen, daß leider kein Geld da ist, um Taten folgen zu lassen. Auf den ersehnten Frieden wird Ardoyne wohl noch warten müssen.

 

Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

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