© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Und tschüß!
Ausdruck der Krise und beste Unterhaltung: Rücktritte von Amtsträgern häufen sich
Paul Rosen

Rücktritt – das Wort hat etwas von Krise, Nervenkitzel und natürlich Unterhaltung. Was haben sich viele ergötzt, als die stets belehrend auftretende und moralisierende Bischöfin Margot Käßmann wegen einer Trunkenheitsfahrt zurücktrat. Hatten die Nachbarn nicht während der Tagesschau geschunkelt und „Lallejula“ gesungen? Pathos brachte der Rücktritt von Arbeitsminister Franz Josef Jung (CDU), der von alten Geschichten aus dem Verteidigungsministerium eingeholt wurde, in die Wohnzimmer. Er wirkte uneinsichtig wie ein zappelnder Delinquent. Diesen Nervenkitzel schafft kein Tatort.

Leider waren Rücktritte in der Vergangenheit fast so selten wie Fußballweltmeisterschaften. Was haben wir uns doch über Politiker aufgeregt, die man eines Tages mit den Füßen nach vorn aus ihren Amtsstuben werde tragen müssen, über 75jährige, die in neue Ämter strebten. Und hatten Generationen von Kommentatoren nicht gefordert, die Politiker sollten endlich mal Jüngere ranlassen und nicht mehr an ihren Sesseln kleben? 

Auf einmal, man kommt sich vor wie Alice im Wunderland, tun sie uns den Gefallen: Politiker treten reihenweise zurück. Kürzlich wurde gefragt, wo die zweite Reihe der CDU sei. Die Antwort fällt nach den jüngsten Rücktritten leicht: Man suche bitte in der dritten Reihe. Rücktritte und die Wahl von Nachfolgern, die dann wiederum zurücktreten und bis hinunter in Ortsverbände einen Kamineffekt von Rücktritten und Neubesetzungen auslösen, bringen dem Publikum immer neue Kicks. Was ist eine Tagesschau wert, die mit dem Satz beginnt, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihren Besuch in Moskau beendet? Sie ist langweilig wie einst die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens. Viel besser ist, wenn der Sprecher mit gehobener Stimme beginnt: „Völlig überraschend hat der hessische Ministerpräsident Roland Koch seinen Rücktritt erklärt.“

Da ist Musik drin. Hat der Zurückgetretene wieder einmal „brutalstmöglich“ was aufgeklärt? Hat er Dreck am Stecken? Ist was unter dem Teppich? Dieses angenehme Gruselgefühl bei Bier und Chips abends um acht Uhr – wer möchte es missen? Und dann diese ratlosen Gesichter von Parteifreunden, die im Fernsehen den Rücktritt bedauern, voller Zweifel sind, wer den Job jetzt machen könnte – einfach herrlich.

Fast um die Gänsehaut gebracht hätte uns Horst Köhler, der ehemalige Bundespräsident. Sein Rücktritt kam zur Unzeit, denn es war kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft. Nicht auszudenken, wenn Köhler ein paar Tage später zurückgetreten wäre, und man hätte seinen Nachfolger während des Halbfinales wählen müssen. Es ist nur der Besonnenheit und Klugheit von Bundestagspräsident Norbert Lammert zu verdanken, daß der Wahlkrimi mit Christian Wulff und Joachim Gauck in den Nebenrollen an einem spielfreien Tag angesetzt wurde. Diese Bundesversammlung mit drei Durchgängen war besser als jeder Schwergewichtsboxkampf und dauerte auch viel länger. Ein unschätzbares Verdienst von Lammert. Sollte der Bundestagspräsident eines Tages zurücktreten, wäre das wirklich ein trauriger Tag.

Die Tatsache der sich häufenden Rücktritte spricht für die Gründung einer neuen Institution: das Amt des Bundesrücktrittsbeauftragten. Dort könnten sich rücktrittswillige Politiker und Bischöfe beraten lassen, ihre Rücktrittstermine koordinieren und sich für den Einstieg in ein neues Amt „coachen“ lassen, damit es den Rücktrittswilligen nicht so geht wie der Nationalmannschaft: Irgendwann werden die guten Spieler knapp.

Das Amt könnte als „Think Tank” fungieren und Politiker und Manager zum Rücktritt animieren: Hätte Bahnchef Grube nicht längst wegen der ausgefallenen Klimaanlagen in den ICE-Zügen zurücktreten müssen? Wichtig wäre auch die Einsetzung einer Frauenbeauftragten beim Bundesrücktrittsbeauftragten. Denn seit dem Rücktritt der SPD-Wortbrecherin Andrea Ypsilanti in Hessen wird die Szene von Männern beherrscht. Das darf nicht so bleiben. 

Überhaupt müßten mehr Rücktritte vollzogen werden. Diese Woche begann mit dem Rücktritt des Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust und erstklassigen Fernsehbildern: ein Gesicht wie in Stein gemeißelt, eine während der – leider vom Blatt abgelesenen – Ansprache etwas rauh werdende Stimme. Rechneten wir nicht schon – zitternd vor Aufregung – mit einem Aussetzer, einer Träne vielleicht, wie damals Mitte der Neunziger bei der FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, einer echten Rücktrittspionierin? Das geschah nicht, aber trotzdem begann die Woche gut. Etwa seit Mittwoch macht sich jedoch Langeweile breit. Neue Varianten, wie etwa ein Doppelrücktritt oder ein Serienrücktritt (oder auch der ohnehin längst überfällige Rücktritt von DFB-Chef Theo Zwanziger), hätten uns Wohlbehagen bis zum Wochenende verschaffen können.

ARD-Rücktrittsexperte Ulrich Deppendorf soll schon ein kleines Sendeformat von 1:30 Minuten entwickelt haben. Alles ist fertig, in der Anmoderation müssen nur noch Name und Funktion des Zurücktretenden eingesetzt werden. Deppendorf braucht gar nicht mehr live aufzutreten, die Lebensläufe der Berufspolitiker sind ohnehin auswechselbar. Die Moderatorin nennt Name und Funktion des Zurückgetretenen, Deppendorf kommt dann vom Videoband und erzählt was von Lücken, die nicht geschlossen werden können, einer schockierten Parteibasis und ratlosen Mitarbeitern. Wenn auf Parteibezeichnungen verzichtet wird, können Rücktritte aus unterschiedlichen politischen Lagern sogar mit einem Band bedient werden. Das schließt peinliche Verwechslungen aus.

Die Stars des Fernsehens sollen an neuen Formaten arbeiten. Anne Will und ihr Kollege Frank Plasberg planen Rücktritt-Talkshows. Höhepunkt des Abends wäre ein spontaner Rücktritt vor laufender Kamera. RTL bereitet eine Sendung mit dem klangvollen Titel „Der Super-Rückritt“ vor. Günther Jauch soll den Jahrhundert-Rücktritt planen und sich bereits mit einer schriftlichen Anfrage an den Vatikan gewandt haben. Sein Pech wird sein, daß er auf die Antwort aus Rom rund hundert Jahre wird warten müssen. Das wird der gute Jauch nicht mehr erleben.

Kürzlich trat die gesamte CDU zurück. Auf einmal war sie weg. Ruckzuck, einfach weg, nicht mehr da. Bei der ganzen Aufregung über Einzelrücktritte, Nachfolgediskussionen und der politischen Kaffeesatzleserei fiel das zunächst nicht auf. Als die Morgendämmerung kam und wir aus dem schweren Rücktrittsrausch erwachten, befanden wir uns in einer neuen Republik.

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