© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Erreichbarkeit
Karl Heinzen

Die Vorstellung, im Urlaub könne der Job vollständig in den Hintergrund treten, deckt sich nicht mit der Lebenswirklichkeit eines Großteils der Arbeitnehmer. Dies ist das Ergebnis einer demoskopischen Erhebung, die im Auftrag des Personaldienstleisters Randstad und des Software-Anbieters Symantec durchgeführt worden ist. In ihr gaben 52 Prozent der Befragten an, daß sie im Urlaub die eingehenden geschäftlichen E-Mails studieren. Jeder dritte Arbeitnehmer wird in ihm von dienstlichen Anrufen ereilt, und jeder vierte gibt zu, daß er sich aus eigenem Antrieb mit beruflichen Fragen auch dann befaßt, wenn er eigentlich „frei“ genommen hat.

Die jahrelangen Bemühungen um eine stärkere Disziplinierung der Beschäftigten haben sich somit ausgezahlt. Wer heute strikt darauf beharrt, daß er außerhalb der vertraglich definierten Arbeitszeit nicht mit Geschäftsvorgängen behelligt werden möchte, empfiehlt sich nicht für eine Fortbeschäftigung oder gar einen Aufstieg im Unternehmen. Dies nehmen die allermeisten Arbeitnehmer unterdessen ernst und pflegen behutsam ihr professionelles Image permanenter Ansprechbarkeit, damit nicht der Eindruck erweckt wird, sie würden das in der unseligen Ära des Sozialstaates übliche Anspruchsdenken an den Tag legen.

Allerdings könnten sie auch nicht mehr die Ausflüchte bemühen, mit denen die Altvorderen ihre Bequemlichkeit kaschierten. Anders als noch vor 20 Jahren ist ein Urlauber heute an nahezu jedem Ort der Welt mobil erreichbar, und er hat von diesem aus oftmals auch Zugang zu den Daten seines Unternehmens, die er zur Beantwortung von Fragen oder zur Erledigung von Aufträgen benötigt. Für nicht wenige Beschäftigte ist es sogar ein schlechtes Zeichen, wenn der Arbeitgeber auf diese Möglichkeit nicht zurückgreift. Sie fühlen sich nicht gebraucht und fürchten um ihre berufliche Zukunft.

Die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie legt den Beschäftigten zwar im Urlaub an die kurze Leine, in der Arbeitszeit verschafft sie ihm jedoch Freiräume, die dies mehr als kompensieren. Unternehmen können es kaum noch verhindern, daß ihre Mitarbeiter mit eigenen tragbaren Geräten privat telefonieren, im Internet surfen, Spiele spielen, Musik hören oder Videos anschauen, ohne daß die klassischen Formen der Arbeitsverweigerung wie Bummelei oder geistige Abwesenheit ein Ende gefunden hätten. Mehr denn je hat daher das unternehmerische Credo eine Berechtigung: Arbeitnehmer sind unverzichtbar. Es wäre aber besser, wenn man ohne sie auskäme.

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