© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Aus Mangel an Überzeugung
Bildungssystem: Die Union pflegt zu Fragen der Schulpolitik ein rein taktisches Verhältnis
Karlheinz Weissmann

Es ist erstaunlich, wie schnell die Debatte über den Erfolg der Hamburger Schulinitiative „Wir wollen lernen“ (JF 30/10) grundsätzlich geworden ist. Da kamen den Verlierern abrupt Zweifel an der sonst hoch geschätzten Basisdemokratie; da gibt es bürgerliche Politiker, die „schweizern“ und meinen, man könnte nicht nur über Pädagogisches, sondern auch über Europäisches abstimmen lassen; da sehen die einen gar keinen Grund, von integrativen Konzepten abzugehen; da glauben andere das Gymnasium gerettet und dritte hoffen noch einmal auf die Beseitigung des Föderalismus in Kultusfragen und auf den Durchgriff der Zentrale.

Die dann zuständige Bundesbildungsministerin Annette Schavan schlägt verbaliter mit der Faust auf den Tisch und verlangt, daß die ganze Strukturdebatte ein Ende habe und von den Lehrern gefälligst unterrichtet und von den Schülern gefälligst gelernt werden solle. In ihrer Partei, der CDU, geht ein spürbares Aufatmen durch die Reihen, nicht unbedingt weil man Schwarz-Grün das Scheitern gönnt oder bildungspolitische Prinzipien hätte, sondern weil es die Befürchtung gibt, hier habe man sich einfach zu weit vorgewagt.

Das rein taktische Verhältnis zu Fragen der Schulpolitik ist typisch für die Union. Die restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit hatte man nur halbherzig getragen, und seit den sechziger Jahren unterstützte man die „Bildungsplanung“, um nicht in den Ruch mangelnder Modernität zu kommen, und half jenes fatale Bündnis von Bürokratie und Ideologie zu schmieden, das uns bis heute zu schaffen macht. Die Abwehr des großen Unsinns kam nie aus der Partei, sondern immer von der bürgerlichen Basis, angefangen bei der Verhinderung der Hessischen Rahmenrichtlinien über die Blockade der „Coop“-Schule in Nordrhein-Westfalen bis hin zum Hamburger Schulkampf. Bestenfalls ist die CDU auf den fahrenden Zug aufgesprungen, schlimmstenfalls hat sie sich den Linken wie zuletzt als Bündnispartner angedient.

Gesunder Menschenverstand war nur die Sache von Nichtpolitikern und Nichtfachleuten, im Kern jener Teil des Mittelstands, der die Tassen im Schrank behält und sich nicht durch Floskeln übertölpeln läßt. Aber dessen Mobilisierung war in Hamburg schon ein Kraftakt, zumal die regierungsamtliche und parteiübergreifende Propaganda flächendeckend wirkte und sogar das Schulpersonal auf die Linie des Senats verpflichtet wurde.

Vor allem aber wird die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eine Wiederholung des Erfolgs erschweren. Die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, die – gepflegt-egalitär, aber massiv – zugunsten der „Primarschule“ aufgetreten war, gab Marina Mannarini, Vertreterin der „Interkulturellen Elterninitiative“, Gelegenheit, ihre Auffassung zu bekunden, daß es ungerecht gewesen sei, die mehr als 200.000 nichtdeutschen Erwachsenen in Hamburg ohne Stimmrecht zu lassen. Hätte man die Migranten aufgeboten, so ihre Argumentation, wäre das Volk der Volksabstimmung das richtige und auch das Ergebnis das richtige gewesen.

Das paßt perfekt zu dem Vorwurf des CDU-Bürgermeisters Ole von Beust an einen der Befürworter von „Wir wollen lernen“, der wolle ja nur verhindern, daß sein Sohn oder seine Tochter länger mit Migrantenkindern zusammen zur Schule gehen müßte. Argument wie Jargon erinnern an das, was bis ins letzte Jahrzehnt nur von Grünen und Alternativen zu hören war. Auch das entspricht dem erwähnten Überzeugungsmangel in den Reihen der Union, wo man in bezug auf das gesellschaftspolitische Feld allzeit glaubt, die Positionen der Gegenseite wären schon die richtigen, wenn man sie nur wirtschaftskompatibel machte und in höflicherem Ton vortrüge.

Nur so wird verständlich, warum Hamburg ein einsames Symbol des Widerstands gegen die Zerstörung des deutschen Bildungssystems ist, in einer Zeit, in der eine CDU-geführte Bundesregierung den Bologna-Prozeß vorantreibt, der in den Universitäten das Unterste zuoberst kehrt, und CDU-geführte Landesregierungen das dreigliedrige Schulsystem abbauen, Gesamtschulen eine Bestandsgarantie geben und deren Neugründung unter allen möglichen Vorwänden (Schulorganisation, demographischer Wandel) zulassen, pädagogische Experimente (Abitur nach zwölf Jahren, „Selbständigkeit“ der Schulen, fächerübergreifender Unterricht, „Kompetenz“-Orientierung, Methodenfixiertheit, Anerkennung von Pseudoleistungen in Pseudodisziplinen) und allgemeine Niveausenkung der Ausbildung wie der Abschlüsse fördern.

Wenn man dahinter nicht Ahnungslosigkeit und kurzsichtiges Kalkül, sondern eine gewisse Rationalität vermutet, könnte man immerhin folgendes annehmen: Die Verringerung der Anforderungen ist nicht nur ein weiterer Fortschritt unserer „Verwestlichung“, sondern bereitet das Bildungssystem auch auf die Übernahme von immer größeren Gruppen jener Kinder und Jugendlichen vor, die objektiv nicht beschulbar sind, aber samt ihren Eltern ruhiggestellt werden sollen; ein Ziel, dem auch die Ausdehnung der Schulzeit, die wachsende Bedeutung von edutainment und die Schaffung immer neuer scheinakademischer Ausbildungsgänge dienen. Die Verweildauer reduziert außerdem die Zahl der Arbeitslosen; gesteuert werden muß im Grunde nur einer Verschlechterung der Standards im Bereich von Medizin, Mathematik und Naturwissenschaft, aber hier wirkt seit langem ein Selektionsdruck durch die Objektivierbarkeit der tatsächlich erreichten Ergebnisse und die nicht hintergehbaren Anforderungen eines entsprechenden Studiums.

Bildungspolitik ist dann zuletzt nur noch Teil sozialer Ingenieurskunst, ganz gleich, was irgendwer über die „Bildungsrepublik Deutschland“, Wilhelm von Humboldt und das Recht der freien Persönlichkeit erzählt, und es käme ein Prozeß zum Abschluß, auf dessen fatale Zwangsläufigkeit der Soziologe Helmut Schelsky schon vor fünfzig Jahren hingewiesen hat: „Die Steigerung der Konsumbedürfnisse und die Ausdehnung der Verbraucherhaltung (…) erfaßt auch in vollem Umfange eine Sozialisierung ehemalig oberschichtgebundener Bildungsgüter, deren ‘Genuß’ im Sinne eines Erholungs-, Unterhaltungs- und Anregungs-Gutes als eine spezifisch moderne Form der Demonstration eines Sozialprestiges und als ein sozialer Normalanspruch angesehen wird, während die darin liegenden Verpflichtungen der inneren geistigen Selbstzucht dabei weitgehend verlorengehen.“

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