© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Die letzten weißen Flecken
Judith Schalanskys beeindruckende Reise zu den abgelegensten Inseln der Welt besticht nicht nur durch die geistreiche Sprache
Daniel Napiorkowski

Wer ist noch nicht dem Reiz erlegen, sich in Gedanken in die klassische Robinson-Crusoe-Situation zu versetzen: irgendwo auf einer kleinen einsamen Insel zumindest einige wenige Tage verbringen, die Umgebung erkunden, sich den Herausforderungen der Natur stellen? Tatsächlich gibt es noch zahlreiche unbewohnte, abgelegene Inseln, wahllos über die Weltmeere verstreut, Tausende Kilometer vom nächsten Festland entfernt. Diese verborgenen, geheimnisvollen Orte haben Namen wie „Einsamkeit“, „Süd-Thule“ und „Pagan“; in einigen Fällen haben gar mehr Menschen den Mond betreten als diese Inseln.

Judith Schalansky stellt fünfzig solcher „kartographischen Fußnoten“ vor. Dabei erweist sich die Dafoesche Abenteuerromantik jedoch oftmals als reine Kopfgeburt, denn die wenigsten dieser Inseln sind für Menschen geeignet: Unwirtlichkeit, extreme Temperaturen, kaum Nahrung und gähnende Einöde lassen den Traum eines irdischen Paradieses schnell platzen. So mußten auch immer wieder abenteuerfreudige Seefahrer schweren Herzens feststellen, daß der hohe Aufwand, eine solche Insel zu erreichen, in keinem Verhältnis zu dem kärglichen Nutzen steht, den diese letzten weißen Flecken auf der Landkarte bieten. Dafür hat jede Insel eine eigene Geschichte zu erzählen.

Die kleinste der vorgestellten Inseln, Tromelin im Indischen Ozean östlich von Madagaskar, ist gerade 0,8 Quadratkilometer groß und beherbergt heute vier Bewohner. 1760 strandete dort nach einem Unwetter ein Schiff der Ostindischen Handelskompanie. Den überlebenden Matrosen gelang es irgendwann, aus dem Schiffswrack ein kleines Boot zu bauen, mit dem sie die Insel wieder verlassen konnten. Zurück blieben rund sechzig Sklaven – nunmehr frei und doch gefangen. Erst 1776 entdeckte die Besatzung einer französischen Korvette die Zurückgelassenen, von denen sechs Frauen und ein kleiner Junge noch lebten. Die berühmteste Insel dürfte Iwojima, 1.200 Kilometer südlich von Tokio im Pazifischen Ozean sein. Am 23. Februar 1945 schoß Joe Rosenthal dort das weltbekannte Kriegsfoto von sechs Soldaten, die die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika in den Boden der Insel stemmen.

Auf der zum Galapagos-Archipel gehörenden Insel Floreana ereignete sich 1934 hingegen eine ganze Reihe von Vorfällen, die noch heute Anlaß zu allerhand Spekulationen geben. Drei Ansiedler verschwanden spurlos, drei weitere wurden tot gefunden – unter ihnen die selbsternannte Baronin Eloise Wagner de Bousquet aus Österreich, die auf der Insel ein Luxushotel für Millionäre errichten wollte. Die näheren Umstände dieser sogenannten „Galapagos-Affäre“ sind bis heute nicht geklärt und dienen als Inspirationsquelle für Literatur und Film.

Eine tief traurige Geschichte erzählt die Inselkette Napuka, die irgendwo verschollen im Pazifischen Ozean liegt, knapp 4.000 Kilometer südlich von Hawaii. Im Jahre 1520 begab sich eine Gruppe von Seefahrern auf Expedition über das schier endlose Weltmeer. Wochenlang irrten sie umher, bekamen kein Land zu sehen und die Vorräte an Nahrung waren längst aufgebraucht. Die Mannschaft begann, Jagd auf die Schiffsratten zu machen, während die Körper der Verstorbenen schnellstmöglich in Segeltücher gehüllt und ins Meer geworfen wurden – damit niemand in Versuchung geriet. Nach fünfzig Tagen erreichten sie schließlich eine kleine Inselkette. Diese stellte sich jedoch als eine felsige, unwirtliche Einöde heraus, die an Nahrung und Trinkwasser nichts hergab. Seitdem trägt der Atoll auch den Namen „Inseln der Enttäuschung“.  

Die Anekdoten sind in eine schöne Sprache gehüllt – die Macquarieinsel etwa wird als eine „aus dem Wasser ragende Wirbelsäule eines unterseeischen Rückens“ beschrieben –, und die Ausstattung des Buches ist sehr geschmackvoll. So wird jede Insel auf einer Doppelseite mit historischen, geographischen und demographischen Angaben sowie einer Karte vorgestellt. In ihrem Vorwort fordert Schalansky, die bereits 2006 mit ihrem typographischen Kompendium „Fraktur mon Amour“ aufgefallen ist, die Kartographie endlich zu den poetischen Gattungen und den Atlas selbst zur schönen Literatur zu zählen. Letzteres ist ihr mit dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ zweifellos gelungen.

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. Mare Verlag, Hamburg 2009, gebunden, 144 Seiten, 34 Euro

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