© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Rituelle Debatten
Einwanderung: Fetisch Fachkräftemangel und die Irrwege der Politik
Michael Paulwitz

Jeder bekämpft die Leere im Sommerloch auf seine Weise: Der ins Umfragetief geratene französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy ordnete dieser Tage hartes Durchgreifen gegen illegal eingereiste Zigeuner an und drohte mit der Ausbürgerung hochkrimineller Einwanderer, wenn sie den Staat und seine Repräsentanten angriffen. Und in Deutschland debattieren Politiker, Sozial- und Wirtschaftslobbyisten mal wieder, ob Deutschland mehr „qualifizierte ausländische Fachkräfte“ anwerben könne oder solle und ob diese eher mit Geldprämien, dem Hinweis auf deutsche Sozialleistungen oder mit rascher Anerkennung ihrer Führerscheinpapiere zu locken wären.

Seit Gerhard Schröders „Green Card“-Ballon gehört das Gegacker um Fachkräftemangel und Einwandereranwerbung zum Standardrepertoire der politischen Pausenfüller. Es ist dasselbe Ritual wie jedes Jahr: Lobbyverbände stellen alarmistische Rechnungen über Zigtausende Ingenieure oder andere qualifizierte Kräfte an, die in den nächsten Jahren dringend benötigt würden, und warnen vor Milliardenverlusten für die Volkswirtschaft und Wohlstandseinbrüchen, wenn diese nicht sofort importiert würden.

Politiker, die brav über dieses Stöckchen springen, finden sich jedesmal; diesmal war Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle als erster vorgeprescht mit seiner skurrilen Einlassung, die Unternehmen sollten ihre heißbegehrten Spezialisten doch mit „Begrüßungsgeldern“ anlocken. Prompt fordern die einen Punktesysteme, Kontingent- oder Quotenregelungen für die Arbeitsmigration, während andere sich für die von der Wirtschaft gewünschte Senkung der Einkommenshürden für Zuzugsgenehmigungen starkmachen und Appetit auf die globale Schnäppchenjagd um die „besten Köpfe“ machen wollen.

Leider ist der Rummel um den „Fachkräftemangel“ kein so harmloses Saure-Gurken-Thema wie die periodischen Sichtungen des Loch-Ness-Ungeheuers früherer Tage. Zug um Zug unterminiert jede dieser Debatten das formell noch immer gültige Anwerbeverbot für ausländische Arbeitskräfte aus dem Jahr 1973. Wer dagegen angesichts von Millionen Arbeitslosen darauf dringt, zuerst die vorhandenen Potentiale im Land zu nutzen, findet sich schnell in der Defensive wie der Chef der Bundesagentur Frank-Jürgen Weise.

Mit massiver Schützenhilfe von der EU-Kommission, die unbeirrt die Binnenglobalisierung der europäischen Arbeitsmärkte betreibt, kann die Wirtschaftslobby auf baldige Erfüllung ihrer Wünsche hoffen: Statt mühselig in die Qualifizierung arbeitsloser Ingenieure und Fachkräfte investieren oder älteren Arbeitnehmern eine Chance geben zu müssen, soll der herbeigerechnete Mangel dazu dienen, stets ein genügend großes Angebot an jungen, sofort einsetzbaren Kräften aus aller Welt bereitzuhalten, um die Kosten der Arbeit drücken zu können.

Nach der importierten industriellen Reservearmee für die einfachen Tätigkeiten wünscht man sich jetzt also eine solche für gehobenere Verwendungen. Das Prinzip gilt seit der Gastarbeiteranwerbung in den Sechzigern: Einwanderungsgewinne werden in den Unternehmenskassen privatisiert, die Folgekosten zu Lasten von Gesellschaft und Sozialsystemen sozialisiert. Wirtschaftsnahe englischsprachige Rekrutierungsportale, die mit dem hohen Niveau der Sozialleistungen in Deutschland werben, bestätigen diesen Zusammenhang auch ganz ungeniert.

Es ist eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Nicht zuletzt die Folgelasten früherer Gastarbeiteranwerbungen haben die deutschen Sozialsysteme zu gigantischen Umverteilungsapparaten anschwellen lassen, die zu Mißbrauch und Unterschichtseinwanderung ermuntern und qualifizierte Arbeitskräfte, einheimische wie ausländische, systematisch vergraulen. Alljährlich verläßt eine sechsstellige Zahl gutausgebildeter Deutscher das Land, während die vielbeschworenen „besten Köpfe“ einen weiten Bogen um ein Land machen, in dem die Mittelschicht rücksichtslos zur Subventionierung einer großenteils einwanderungsinduzierten Unterschicht in Haftung genommen wird.

Mit läppischen Lockprämien à la Brüderle läßt sich dieser Widerspruch nicht aus der Welt schaffen. Der rituellen Debatte um Einwanderung und Arbeitsmarkt fehlt es an Ehrlichkeit und Einsicht in die Zusammenhänge. Klassische Einwanderungsländer setzen auf Eigenverantwortung und Aufstiegswillen und locken mit strengen Auswahlkriterien, hohen Nettolöhnen und niedrigen Steuern. Wer mit ihnen konkurrieren will, muß in letzter Konsequenz den kostspieligen Wohlfahrtsstaat zur Disposition stellen. Ein Sozialstaat, der nicht an sich selbst zugrunde gehen will, muß sich dagegen rigide nach außen abschotten, um nicht zum Magneten für Verlierer und Kostgänger zu werden.

Deutschland leistet sich der Wirtschaft zuliebe seit vielen Jahren eine Einwanderungspraxis, die zu keinem der beiden Modelle paßt. Diese Fehlsteuerung hat mit fataler Konsequenz Probleme wie den Mangel an ausbildungsfähigem und qualifiziertem Nachwuchs selbst mitverursacht, die jetzt mit noch mehr Einwanderung behoben werden sollen. Minister Brüderle stünde eher in der Pflicht, seinen Lobbyistenfreunden ihren Irrweg auszureden, statt dem Teufelskreis eine weitere Drehung zu versetzen. Nicolas Sarkozy ist näher an der Lösung des Problems als die deutschen Anwerbestrategen.     

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