© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Das Wahlkampfthema von morgen
Bevölkerung: Die sommerliche Debatte um die Anwerbung ausländischer Fachkräfte ist ein Vorgeschmack auf die demographische Krise
Lion Edler

Bislang gilt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als wahlentscheidend, und kaum ein anderes Thema wird so stark für den Kampf um „soziale Gerechtigkeit” in Stellung gebracht. Doch schon bald werden arbeitsmarktpolitische Debatten wohl unter ganz anderen Vorzeichen geführt werden. Nachdem die kürzlich bekannt gewordenen Prognosen des Forschungsinstituts Kiel Economics eine Vollbeschäftigung für das Jahr 2014 prognostizierten, meldeten sich prompt die ersten Politiker zu Wort. „Der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren zum Schlüsselproblem für den deutschen Arbeitsmarkt und nicht die Arbeitslosigkeit“, sagte Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) dem Handelsblatt.

„Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration“

Abhilfe will Brüderle nun mit einer Fachkräfte-Initiative schaffen, zu der neben Wirtschaftsverbänden auch Wissenschaftler eingeladen werden sollen, um ausländische Arbeitnehmer nach Deutschland zu locken. Zudem sprach sich der FDP-Mann für ein Begrüßungsgeld aus, indem Firmen, „die es sich leisten können und dringenden Bedarf haben, ausländischen Facharbeitern eine Lockprämie zahlen“.

Vom Technologie-Branchenverband Bitkom kam Zustimmung. Die derzeitigen Gesetze für die Einwanderung von Fachkräften seien „immer noch zu restriktiv“, weswegen eine Reduzierung der Einkommensgrenzen für Hochqualifizierte angezeigt sei. Die Prüfung der Einwanderer sei noch zu bürokratisch.

Kritik kam dagegen von den Gewerkschaften. Wenn im Mai 2011 der Arbeitsmarkt wegen der EU-weiten Freizügigkeit auch für osteuropäische Arbeitskräfte geöffnet werde, drohten vielmehr weiterhin häufig Niedriglöhne, „auch bei qualifizierten Tätigkeiten“, befürchtete Margret Mönig-Raane, stellvertretende Verdi-Vorsitzende. Dagegen würden nur Mindestlöhne hülfen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hält die qualifizierte Zuwanderung aus demographischen Gründen indes für unvermeidbar. Wichtig seien hierbei aber Fachkräfte, welche die „Voraussetzungen für eine nachhaltige Integration mitbringen“.

Zuvor hatte Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) gesagt, sie könne sich vorstellen, daß die Einkommensgrenze für den Zuzug von Ausländern (derzeit 64.000 Euro Jahreseinkommen) ganz wegfalle, und damit eine kontroverse Debatte ausgelöst. Weiterhin plädierte Schavan für erleichterte Visa-Verfahren für ausländische Spezialisten und einen leichteren Nachzug der Familien von ausländischen Experten, die nach Deutschland kommen. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) entgegnete, für ihn habe die Anwerbung ausländischer Fachkräfte nicht die höchste Priorität. Wichtig sei zunächst, daß „wir das hier lebende Arbeitskräftepotential ausnutzen“. Man könne jedoch über die Senkung der Einkommensgrenze reden, um die Einwanderung zu erleichtern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach sich ablehnend zu einem leichteren Zuzug von Fachkräften aus. Das seit vergangenem Jahr geltende Gesetz zeige „durchaus positive Wirkung“, sagte Vize-Regierungssprecher Christoph Steegmans. Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) meinte hingegen, in seinem Bundesland greife die demographische Entwicklung früher. Schon in zehn Jahren werde jeder Dritte älter als 65 Jahre sein. Hieran sehe man, „daß an qualifizierter Zuwanderung kein Weg vorbeiführt“. Nach Ansicht von Wolfgang Bosbach (CDU) erwecke die aktuelle Fachkräfte-Debatte einen falschen Eindruck. Anders als es die Debatte suggeriere, „haben wir bereits sehr großzügige Regelungen für die Zuwanderung solcher Fachkräfte“. Einen besonderen Dreh gab Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) der Debatte. „Auf einem Fest kann man nur mit den Mädels tanzen, die da sind, und nicht von denen träumen, die nicht da sind“, lehnte er Forderung nach dem Zuzug von Fachkräften ab.

Zu der Diskussion nicht ganz passen will nun eine Studie der Marktforschungsgesellschaft Trendence, die ergeben hat, daß Deutschland bei Ingenieuren, IT-Experten und Wirtschaftswissenschaftlern als der zweitattraktivste Arbeitsmarkt hinter Großbritannien und vor der Schweiz gilt. In Österreich, Griechenland, Portugal, Rußland und Schweden zögen mehr als die Hälfte der mobilen Ingenieursabsolventen für die erste Arbeitsstelle nach Deutschland, berichtete die Welt. Nur bei den Absolventen der Wirtschaftswissenschaften schneidet Deutschland etwas schlechter ab. In Österreich, Finnland, Griechenland, Ungarn, Polen, Portugal, Rußland, Schweden und der Türkei würden zwischen 37 Prozent und knapp 47 Prozent der mobilen Wirtschaftsabsolventen am liebsten nach Deutschland auswandern.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen