© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

Debatte um Google
Der sanfte Große Bruder
Dieter Stein

Daß Google den Deutschland-Start seines neuen Internet-Dienstes „Google Street View“ ausgerechnet im Sommerloch ankündigte, ist angesichts des kritischen Presseechos entweder ein PR-Gau – oder eine ganz durchtriebene Werbemaßnahme. Seit Tagen sind die Zeitungen nämlich voll mit Berichten über diese neue Internet-Anwendung. Jeder hat inzwischen davon gehört, das Interesse ist riesig, jeder Verkaufsleiter kann von einer solchen Markt­einführung nur träumen.

Google Street View macht es möglich, virtuell durch jede Straße zu spazieren und uns mit einem 360-Grad-Panoramablick überall umzusehen – wenn die Aufnahmen auch gelegentlich zwei Jahre alt sind und eine Gegend im Winter zeigen, obwohl gerade Hochsommer ist. In Deutschland soll dies bis Jahresende bei ausgewählten 20 Großstädten der Fall sein. Schon jetzt kann man große Teile von Frankreich, Großbritannien, Italien oder Dänemark auf diese Weise „bereisen“, beispielsweise einst bewohnte Ferienhäuser in der Bretagne aufsuchen und in Erinnerungen schwelgen.

So sehr die Empörung derzeit hochkocht und Einsprüche gegen die eine oder andere Abbildung von Privatpersonen eingereicht werden – Street View wird sich nicht aufhalten lassen. Wir sitzen mitten in einem Hochgeschwindigkeitszug der digitalen Revolution. Das Internet läßt die Welt auf die Bildschirmgröße eines Mobiltelefons schrumpfen. Wir vertrauen dem Internet intimste Daten an, hinterlassen im Laufe unseres digitalen Lebens eine permanent anwachsende Datenspur, aufgezeichnet von Rechnern, die sich nationalem Zugriff entziehen.

Vorahnungen einer totalitären Zukunft, wie sie George Orwell im alles überwachenden „Großen Bruder“ seines Romans „1984“ beschrieben hat, bewahrheiten sich nicht. Nicht der Staat ist es, der die totale Kontrolle über unser Leben, unsere Wünsche, unsere Gedanken anstrebt. Dies entsprach dem Bild klassischer Diktaturen wie des Kommunismus, die Orwell Ende der vierziger Jahre vor Augen hatte. Die Überwachung geschieht heute nicht verdeckt und gegen den Willen der Betroffenen. Im Gegenteil: Die Beobachteten werfen sich dem „Großen Bruder“ in die Arme, wirken am totalen Verdampfen alles Privaten – von einer kleinen Zahl Verweigerer abgesehen – sogar bereitwillig mit. Der eigene Voyeurismus und derjenige der anderen befeuert diese Begeisterung – entsprechend der Vision Andy Warhols, daß eine Zeit komme, in der jeder Mensch „für 15 Minuten berühmt“ sein werde. Noch ist kaum zu ermessen, welche Wirkung die Auszehrung der Privatheit, der Intimsphäre hat.

Nach Sigmund Freud ist der Verlust von Scham „das erste Zeichen von Schwachsinn“. Die enthemmte Bereitschaft, sich digital zu entäußern, als Merkmal kollektiven Schamverlusts? Google Street View ist letztlich nur ein Schritt von zahllosen im Zuge einer bedenklichen, galoppierenden totalen digitalen Mobilmachung des Menschen, die im Kapitalismus jedoch nicht der Staat, sondern global agierende Unternehmen vorantreiben – unter Mitwirkung des Konsumenten, auf den der Bürger reduziert ist.

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