© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Rebellion war gestern
„Irgendwas, das bleibt“: Tätowierungen sind längst keine gesellschaftliche Randerscheinung mehr
Ellen Kositza

Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter“, schrieb der Architekt Adolf Loos 1908 in seiner berüchtigten Streitschrift „Ornament und Verbrechen“. Oha! Loos war selbst zeitweise wegen Sittlichkeitsverbrechen inhaftiert, tätowiert war er nicht. Hundert Jahre später ist die Rede von „degenerierten“ Menschen nicht mehr opportun, dabei steigt die Anzahl der Tätowierten.

Noch vor ein paar Jahrzehnten waren derartige Hautverzierungen, zumindest in unseren Breiten, vorzüglich zwei Gruppen vorbehalten: Knastbrüdern und Seefahrern. Später kamen diverse Subkulturen hinzu, Skinheads, Punks und andere Szenevölkchen. Seit etwa fünfzehn Jahren ist das Bildchen-stechen-Lassen Volksmode. Nach einer aktuellen Studie der Universität Leipzig haben sich in Deutschland 30 Prozent der Männer und ganze 41 Prozent der Frauen im Alter zwischen 15 und 25 dauerhafte Farbmale unter die Haut stechen lassen. Die Branche boomt! Selbst – besser: gerade – in Orten, wo der Einzelhandel schwindet und die Landstriche sich entvölkern, haben Dienstleistungsbetriebe im Rahmen der Körpermodifikation (Kosmetik- und Nagelstudios, Muckibuden und eben sogenannte Tattoo-Studios) Hochkonjunktur.

Theorien, wonach Tätowierungen vornehmlich der „rebellischen“ Jugendzeit vorbehalten seien und eine Abgrenzung gegen die bürgerlichen Werte der Erwachsenenwelt markierten, tragen heute nicht weit. Man schaue sich um am Badesee oder winters in der Sauna: Das Röslein am Fußgelenk trägt die Sechzigjährige als generationenübergreifendes Signum gemeinsam mit Tochter und Enkelin, die brave Arzthelferin hat sich den Steißbereich mit dem gleichen Muster verzieren lasen, das ihr mal in einem Musikvideo gefiel, und Olaf, der tüchtige Maschinenbauingenieur, trägt die Namen seiner Töchter in Jugendstilschrift auf den Schulterblättern.

„Ötzi“ hatte über fünfzig Tätowierungen

Vanessa, kaufmännische Angestellte mit Häuschen in der Neubausiedlung, trug sich lange mit dem Gedanken, ein großes Porträt ihres frühverstorbenen Vaters auf den Rücken plazieren zu lassen. Der Tätowierer ihrer Wahl hatte bereits die Vorzeichnung auf die Haut aufgetragen, als sie ihm Einhalt gebot – und für die Mühe und den freigehaltenen Großtermin um 80 Euro erleichtert wurde. Nun ziert ein Kolibri ihre Schulter und ein springender Delphin ihre Hüfte.

Als symbolträchtige Tiere gelten ihr beide. Der Kolibri stand, so Vanessa, bei „einem alten Volk“ für die Wiederaufstehung eines Kriegers und „im übertragenen Sinne“ für die Heilung einer alten Wunde. Für den Delphin gelte ähnliches, sagt sie; er sei außerdem Sinnbild für Liebe und Lebensfreude – beides sei ihr wichtig. Nach Rebellion und Abgrenzung klingt das nicht.

Das gilt für viele Bereiche der Körpermodifikation, die die Formen des traditionellen abendländischen Körperschmucks überschreiten: Wer hätte noch vor zwanzig Jahren gedacht, daß eine Lehrerin mit violett gefärbten Haarspitzen zur Schule geht – ohne daß dies für Aufsehen sorgen würde? Daß die Rechtsanwaltsgehilfin ihre Klienten mit Glitzerstein in der Nase und Ringlein in der Augenbraue begrüßt? Daß vollständig enthaarte Frauenkörper außerhalb des Bordells als Befolgung eines Gebots der Ästhetik und Hygiene empfunden werden?

Die progressive Deutung solcher in überschaubaren Kreisen immer noch als dekadent („Proletenkult“) empfundenen Phänomene geht dahin, solche Äußerungen als Rückbesinnung auf althergebrachte, aber vergessene Traditionen zurückzuführen. Das Trachten nach Körperverzierung (auch schmerzhafter, man denke nur an die Jahrhunderte währende Herrschaft des Korsetts!) sei menschheitsgeschichtlich tief verankert.

In der Tat weist die Haut von „Ötzi“, dem 5.300 Jahre alten Mann aus den Ötztaler Alpen, über fünfzig Tätowierungen auf. Sie dienten vermutlich medizinischen und rituellen Zwecken. Bereits die alten Ägypter – wo sich heute nur die koptischen Christen, und zwar zahlreich, zuvörderst religiöse Motive stechen lassen – und die Nubier ließen sich tätowieren. Auch im Nahen Osten dürfte diese Kunst verbreitet gewesen sein – anders lassen sich entsprechende Verbote (auch Kaiser Konstantin stellte es unter Strafe) im Koran und den Büchern Mose kaum erklären. Unter Ethnologen ist bis heute das alte Wort „tatauieren“ gebräuchlich, das aus Polynesien stammt und lautmalerisch auf das Geräusch verweist, das der dort gebräuchliche Tätowierkamm auf der Haut verursacht.

Daß Tätowierungen uraltes Brauchtum sind, erklärt nicht die heutige Verbreitung. Für ein Zeichen der Hinwendung zum Traditionellen wird man sie kaum halten können, auch nicht – weil sogenannte Tribals, kultische Muster aus antiken Kulturen, stark verbreitete Motive sind – für den Ausdruck einer Sehnsucht nach Religion oder Magie. Allenfalls im Halbdunkel der japanischen und russischen Unterwelt wird die Tintenritzung noch in einem gewissen rituellen Rahmen vorgenommen; hierzulande dudelt im Radio die Hitwelle, während unter Befolgung der Tätowiermittel-Verordnung die elektrische Nadelmaschine surrt.

Die gebildeten Stände halten sich zurück

Was also macht die lebenslängliche Brandmarkung heute so attraktiv? Einmal dürfte es, in rundum unbeständigen Zeiten der seriellen Monogamie, des modernen Nomadentums und der Arbeitsplatzunsicherheit nicht wenig zu tun haben mit einer diffusen Sehnsucht nach „irgendwas, das bleibt“ (Silbermond) und einem individuellen, garantiert dauerhaften Bekenntnis zugleich. Zum anderen verweist die Lust am Körperschmuck auf das Bedürfnis, den eigenen Leib zu spüren und ihm so ein Recht zukommen zu lassen, das durch den weitgehenden Wegfall körperlich schwerer Arbeit sukzessive obsolet geworden ist. Dazu paßt, daß bei aller Heterogenität der Tattoo-Studio-Klientel die gebildeten Stände nach wie vor eher zurückhaltende Konsumenten sind als der Callcenter-Mitarbeiter oder die Kassiererin.

Ein studierter Sozialarbeiter namens Daniel Meier hat – ausgerechnet an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München – jüngst eine umfängliche Arbeit über das anscheinend bedenkliche Schicksal tätowierter Menschen veröffentlicht. In seiner „empirischen Analyse gesellschaftlicher Diskriminierungs- und Exklusionsprozesse in der Moderne“ kommt er zu dem Schluß, daß Tätowierte „Stigmatisierung erfahren“, und fordert, einen „wesentlichen Fokus der Sozialen Arbeit“ darauf zu richten, derartige „gesamtgesellschaftliche Vorstellungen“ zu beeinflussen. Solche Sorgen gibt es!

Meiers Studie, die brisant „0,3 mm unter der Haut der Gesellschaft“ titelt, erschien wenige Wochen, bevor mit Bettina Wulff eine Bundespräsidentengattin repräsentative Funktion im Staate übernahm. Hätt’ der Autor geahnt, daß es so rasch gehen würde mit dem Aufstieg eines Mitglieds aus verfemtem Milieu – er hätte aufatmen können.

Etwas schwerer fiel die Rehabilitierung einem 49jährigen Mann aus Bayern, dessen kleine Runentätowierung während einer Polizeikontrolle auffiel. Daß er sich die beiden Sig-Runen vor 35 Jahren aus jugendlichem Übermut hatte stechen lassen und daß er mittels einer Fotoreihe belegen konnte, diese Stelle stets durch eine Armbanduhr bedeckt zu halten, half ihm ebensowenig wie seine Versicherung, keine rechtsradikalen Gedanken zu hegen. Die Richterin erlegte ihm 40 Stunden sozialer Arbeit auf und honorierte dabei, daß der Angeklagte „unter erheblichem Körpereinsatz“ die olle Rune zu einem hübschen Muster modifizieren ließ.

Foto: Tätowierte Schulter: Die Lust am Körperschmuck verweis auf das Bedürfnis, den eigenen Leib zu spüren

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