© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Parsifal als Krebserreger
Die Lust am Überdrehten: Wird Christoph Schlingensiefs Werk weiterleben?
Harald Harzheim

Das Etikett des (vermeintlichen) „Avantgardisten“ ließ vergessen, daß Christoph Schlingensief vor allem eins war – ein großer Traditionalist. Soll heißen: Er hat seine kulturelle Erbschaft weder verworfen noch museal konserviert oder als Mumie präsentiert. Nein, seinen Katholizismus, das Werk Richard Wagners, Charles Baudelaires und zuletzt auch Meister Eckhardts, all das konfrontierte er mit politischer Aktualität, kultureller Gegenwart und neuen Ausdrucksformen. Wie ein Kind beobachtete der Experimentator, ob die Chemie stimmte, ob Symbiosen entstanden – oder ob es einfach knallte. Das sorgte oft für „Skandale“ – bevorzugt bei Zeitgenossen, die vom provokativen Potential des Vergangenen nichts wissen möchten: Schon bei der zweiten Vorstellung der „Berliner Republik“ (1999) in der Volksbühne (Berlin) gab der Regisseur enttäuscht kund, daß die Kritik seine Auseinandersetzung mit Richard Wagner darin übersehen hätte.

1960 als Sohn eines depressiven Apothekers in Oberhausen geboren, versuchte Schlingensief schon früh, den Vater aufzumuntern, machte ihm den Clown. Diese Rolle sollte er (fast) lebenslang beibehalten: Sein frühes Film- und Theaterwerk war schrill-parodistisch angelegt. So sprintete er in „100 Jahre Adolf Hitler“ mit Kamera plus aufmontiertem Scheinwerfer durch den Führerbunker, um die letzten Stunden des Diktators „auszuleuchten“. Das Resultat: eine groteske Katharsis gegen das NS-Trauma, die kein anderer „Bunker-Film“ je erreicht hat.

In seinem Remake von Veith Harlans Melodram „Opfergang“ (1944) unter dem Titel „Mutters Maske“ (1998) steigerte Schlingensief dessen Todestrunkenheit mit Baudelaire-Ästhetik und Helge Schneiders verrücktem Spiel bis ins Groteske. Trash-Regisseure wie Herschell Gordon Lewis und Tobe Hooper als Vorbilder proklamierend, ließ er in „Das deutsche Kettensägen-Massaker“ (1990) Mitteldeutsche in den Westen reisen, wo wilde Wessis sie mit brummender Motorsäge empfangen. „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“, lautete der Untertitel. Diese Lust am Überdrehten wurde Schlingensief im „seriösen“ Filmgeschäft zum Verhängnis: Als Aufnahmeleiter in der Serie „Lindenstraße“ feuerte ihn der Produzent Hans W. Geissendörfer wegen groben Unfugs.

Womöglich wäre Schlingensief zeitlebens ein 16mm-Filmer geblieben, hätte Frank Castorf ihn nicht an die Berliner Volksbühne geholt. Neben ihm und dem Choreographen Johann Kresnik etablierte Schlingensief in den Neunzigern den legendären Ruf des Hauses. Dort traf er auch seinen späteren Stammdramaturgen Carl Hegemann, Vater der Helene, Autorin von „Axolotl Roadkill“ (2010, JF 8/10).

Inszenierungen wie „Kühnen ’94 – Bring mir den Kopf des Adolf Hitler“ (1994) oder die parodistische „Chance 2000“-Partei (1998) öffneten ihm die Tore internationaler Theater, TV-Anstalten und Opernhäuser, ebneten den Weg zum Universalkünstler. So holte ihn der kürzlich verstorbene Wolfgang Wagner 2004 nach Bayreuth. Daß er dort den „Parsifal“ inszenierte, habe ihm – so glaubte er rückblickend – die Pforte zum Tod geöffnet. Zu stark sei der morbide Sog wagnerischer Musik in ihn eingedrungen. Schon bei den Proben war er „der festen Überzeugung, daß ich nach ‘Parsifal’ Krebs kriege“. Tatsächlich brach der Lungenkrebs vier Jahre später aus.

In seinem 2009 erschienenen Krankheits-Tagebuch „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!“ (JF 21/09) ringt er mit Wagner, Gott, Jesus und dem Schicksal. Dieser Text, der an Offenheit und emotionaler Wucht nur mit den „Bekenntnissen“ des Augustinus vergleichbar ist, fand auch Verwendung in der Performance „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (2008) – eine Art „Parsifal“-Remake, eine Meß-Zeremonie, deren Mittelpunkt die eigene Qual bildete: Schlingensief als König Amfortas. Es war das erste Werk, das hinter der Komik tiefe Traurigkeit erkennen ließ. Die Clown-Rolle hatte ausgespielt. Bemüht, den Tod maximal hinauszuzögern, plante er unter anderem mit Katharina Wagner eine weitere Inszenierung in Bayreuth. Dazu kam es nicht mehr. Der Tod traf ihn am 21. August in Berlin.

„Seine Kunst wird weiterleben“, resümierte der Berliner Kurier am Tag darauf. Wirklich? Schließlich lebte ein Großteil seiner Werke vom Live-Effekt. Damit ist nicht allein die Form – Theater, Oper, Performance – gemeint. Ihr Inhalt war großteils Reaktion auf aktuelle Ereignisse und nur in diesem Zeithorizont wirkungsvoll. Von Zeitgenössischem inspiriert, blieben sie unmittelbar an Zeitgenossen adressiert. Schlingensief hat das „Bleibende“, das „große Werk“ nie intendiert, sondern den Selbstversuch. Dessen Wirkung blieb ans Charisma seiner Person gebunden, trug Tod und Vergänglichkeit stets in sich, weshalb sich der Ex-Provokateur jetzt zum „Staatskünstler“ umdeuten läßt.

Einem Werk jedoch ist Dauer zu wünschen: dem Operndorf im afrikanischen Burkina Faso. Ein Bayreuth aus Lehm, ein Festival-Haus soll(te) es werden, kein herablassendes „Geschenk“ der „ersten“ Welt an die „dritte“. Eine Stätte des Austauschs, zwischen dem Westen mit seiner hochentwickelten Technikkultur und Afrikas ungebrochener Spiritualität. Gegenseitiges Beschenken statt gönnerhafte Entwicklungshilfe. Darüber hinaus ist das Operndorf ein Symbol der westlichen Amfortas-Wunde, einer Kultur, die ihre spirituelle Wurzeln freiwillig ausriß. Solch radikal erlebte Selbsterkenntnis ist oft nur im Exil möglich. Distanz und Kontrast schaffen die nötige Klarheit. Und solch notwendiges Exil fand Schlingensief – wie vor ihm Pasolini – in Afrika.

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