© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Die ultimative Strafmaßnahme
Stalins Hungerpolitik
Peter Bulke

Warum mußten wir in der Sowjetunion hungern?“ So betitelt der Agrarexperte Walter Lange sein frisch erschienenes Buch. Der Autor ist 1935 in einem deutschen Dorf nördlich des Kaukasus geboren. Infolge der Deportation 1941 wuchs er in Kasachstan auf und lernte dort das Leben auf einer Kolchose kennen. Er studierte an einer Veterinärhochschule und promovierte schließlich auf dem Gebiet der Tierzuchtwissenschaft. Durch den beruflichen Werdegang gewann er einen tiefen Einblick nicht nur in die landwirtschaftliche Praxis der Kolchosen, sondern auch in die sowjetische Agrarpolitik und ihre Befehlshierarchie. Ideologie rangierte hier eindeutig vor Sachverstand. Die Folgen waren verheerend und wirken sich noch heute aus. Das landwirtschaftliche Produktionspotential wird auch im heutigen Rußland bei weitem nicht ausgeschöpft.

Der Autor zitiert zahlreiche Quellen und Erlebnisberichte auch aus der Zeit, die er selbst noch nicht erlebt hat. Extrem ausgeprägte Hungersnöte gab es 1921/23 im deutschen Siedlungsgebiet an der Wolga und dann vor allem 1930/33 im Zuge der Vernichtung des Bauernstandes (Kulaken) in der Ukraine mit Millionen von Toten, auch Holodomor genannt.

Das Schicksal der deutschen Minderheit liegt Walter Lange besonders am Herzen. Die deutschen Kolonisten hatten sich bis zur Kollektivierung einen überdurchschnittlichen Wohlstand erarbeitet. Entsprechend schwer waren sie vom stalinistischen „Kampf gegen das Kulakentum“ betroffen; denn dieser richtete sich besonders gegen die wirtschaftlich erfolgreichen Bauern. Natürlich war auch nach der Deportation in den Lagern der „Trudarmee“ (Arbeitsarmee) der Hunger allgegenwärtig.

Der Autor bringt mehrere erschütternde Erlebnisberichte aus solchen Lagern, die die kaum vorstellbare Grausamkeit des stalinistischen Systems zutage treten lassen. Im Januar 1943 mußte im Ural bei extremer Kälte ein Güterzug mit Baumstämmen beladen werden. Zur Verfügung standen keine Ladetechnik, sondern nur Stricke und die Hände der durch Hunger geschwächten Männer. Der Ladevorgang dauerte 23 Stunden. Von den 630 Männern überlebten 28 den Einsatz nicht. Als sich der voll beladene Güterzug in Bewegung setzte, befanden sich zwischen den Baumstämmen auch einige Leichen. Die Männer waren während der Arbeit in Waggons gerutscht und von nachfolgenden Stämmen erschlagen worden. Arbeitsunterbrechungen zu ihrer Rettung gab es nicht.

Walter Lange: Warum mußten wir in der Sowjetunion hungern? Lichtzeichen-Verlag, Lage 2010, broschiert, 255 Seiten, Abbildungen, 14 Euro

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