© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Sarrazin und die Folgen
Ein stummes Plebiszit
Dieter Stein

Noch nie hat ein Buch in derart kurzer Zeit unter den Lesern unserer Zeitung ein solches Interesse geweckt wie jenes in dieser Woche erschienene von Thilo Sarrazin. „Deutschland schafft sich ab“ übertrifft die Reaktionen, die zuletzt vor zwölf Jahren die deutsche Übersetzung des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ von Stéphane Courtois bei JF-Lesern auslöste. Der Grund? Sarrazin formuliert über weite Strecken eine konservative Agenda, mit seinem Plädoyer für die Bewahrung nationaler Identität und eine aktive deutsche Bevölkerungspolitik spricht er Nationalkonservativen aus dem Herzen. Er hat mit seiner Analyse offensichtlich ins Schwarze getroffen und artikuliert, was viele Bürger denken. Der unglaubliche Absatz des Buches ist wie ein stummes Plebiszit der Käufer für eine andere Politik: Der Verlag druckt nach eigenen Angaben bereits die vierte Auflage, insgesamt sind damit schon 150.000 Exemplare erreicht.

Der politische Betrieb und die mediale Klasse sind dabei, dieses Phänomen zu verdauen. In Sarrazins Thesen sehen sie sich überraschend mit einer Volksmeinung konfrontiert, die in Fragen der Zuwanderung und Integration häufig ausgeblendet wird oder nur gefiltert zu Wort kommen soll. Jetzt arbeiten die Techniker der öffentlichen Meinung unter Hochdruck daran, die durch den rebellischen Sozialdemokraten außer Kraft gesetzte „Schweigespirale“ (Elisabeth Noelle-Neumann) wieder in Gang zu setzen, das „Problem Sarrazin“ zu erledigen, seine Thesen und aufgeworfenen Fragen als „indiskutabel“ aus dem demokratischen Diskurs auszuscheiden. Ob es gelingt, Sarrazin in dieser Weise zu isolieren, darf bezweifelt werden – auch wenn er sich mit wiederholten Exkursen in Genforschung und Abstammungslehre keinen Dienst erwiesen hat.

In einer intakten Demokratie hätte Sarrazins Agenda von Teilen der Politik längst aufgegriffen werden müssen. Prädestiniert wären dafür die bürgerlichen Parteien Union und FDP. Ihre Repräsentanten, vorneweg Kanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle, haben jedoch umgehend signalisiert, das verhindern zu wollen. Doch an der Basis brodelt es. 

In den USA zeigt indessen das Phänomen der bürgerlich-konservativen „Tea Party“-Bewegung, deren republikanische Integrationsfigur Sarah Palin am 28. August in Washington vor rund 300.000 Anhängern sprechen konnte, wie außerparlamentarischer Protest Politiker unter Druck zu setzen imstande ist, die sich weigern, die Interessen der Bürger zu vertreten. Ein Vorbild für Deutschland? Angesichts der Unfähigkeit der CDU, konservative Interessen zu vertreten, prophezeite der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt jetzt die künftige Spaltung der Merkel-Partei: „Entstehen wird je eine freisinnig konservativ-liberale (oder liberal-konservative) sowie eine wirtschaftsliberal-altkonservative Partei.“ Im Gegenzug werde die FDP von der politischen Landkarte verschwinden. Ein denkbarer Prozeß!

In jedem Fall steigt der Druck im Kessel. Sarrazin hat jetzt ein Ventil geöffnet.  Es wird sich zeigen, wie sich dieser Druck politisch in Bahnen lenken läßt.

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