© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Der instrumentalisierte Protest
„Stuttgart 21“: Grüne und Linksextreme nutzen den breiten Unmut über das Bahnprojekt, um neue Mehrheiten zu organisieren
Michael Paulwitz

Seit die Abrißbagger begonnen haben, Teile des denkmalgeschützten Stuttgarter Hauptbahnhofs abzuräumen, um Platz für die Umwandlung des Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu schaffen, steht die Protestmaschine in der baden-württembergischen Landeshauptstadt nicht mehr still. Längst geht es nicht mehr allein um das Für und Wider eines Milliarden-Bauprojekts: Grüne und Linksextreme instrumentalisieren den verbreiteten Unmut der Bürger, um nicht nur in der Schwabenmetropole die politische Landschaft umzupflügen. Ein halbes Jahr vor der Landtagswahl, die sein politisches Schicksal entscheidet, sieht sich auch der neue baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) in der Defensive.

Daß ausgerechnet Mappus, der noch vor kurzem mit öffentlich zelebriertem Abscheu vor schwarz-grünen Koalitionen der eher konservativen CDU-Wählerschaft Zucker gab, jetzt gemeinsam mit dem grünen Landtagsfraktionschef Winfried Kretschmann die Projektgegner zum „Runden Tisch“ einlädt, ist ein deutliches Panik-Symptom. Bewirken werden die Gespräche wohl nichts: Zu festgefahren sind die Fronten zwischen den Stuttgart-21-Befürwortern aus CDU, FDP und SPD, den Freien Wählern und regionalen Wirtschaftsverbänden und den Projektgegnern.

Scheuklappen trägt man auf beiden Seiten. Seit die „Maultaschen-Connection“ – Bahn-Chef und Bundesverkehrsminister stammten damals aus der Region – Anfang der Neunziger „Stuttgart 21“ aus der Taufe hob, scheut man die öffentliche Diskussion und versteht unter „Kommunikation“ vor allem das einseitige Anpreisen der vermeintlichen Vorzüge des Projekts. Von den freiwerdenden Gleisflächen, die Stuttgart dermaleinst eine „Jahrhundertchance“ für die Stadtentwicklung im dichtbebauten Zentrum sichern sollen, profitierte freilich zunächst die Bahn selbst, die diese Grundstücke 2001 vorab für 459 Millionen Euro an die Stadt verkaufte und mit diesem Geld im Blick auf den damals noch anvisierten Börsengang ihre Bilanzen verbessern konnte. Zur selben Zeit bestellte das Land Baden-Württemberg für mehrere hundert Millionen Euro im voraus zusätzliche Nahverkehrs-Zugkilometer, die eigentlich erst nach der Fertigstellung von „Stuttgart 21“ benötigt würden. Mit der erst jetzt bekanntgewordenen fragwürdigen Transaktion, die der damalige Verkehrs-Staatssekretär Mappus mit ausgehandelt hatte, sollte dem neuen Bahnchef Hartmut Mehdorn offensichtlich die Wiederbelebung des von seinem Vorgänger Ludewig bereits beerdigten Projekts schmackhaft gemacht werden.

Berechtigte Bedenken – der Bundesrechnungshof warnte vor zu erwartenden massiven Kostensteigerungen, die den Vertragsrahmen sprengen könnten, eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes stellte die Leistungsfähigkeit des geplanten Durchgangsbahnhofs in Frage, Geologen und Statiker sorgen sich angesichts der Eingriffe in den Grundwasserhaushalt und der kilometerlangen Tunnelbauten durch anhydrithaltige Gesteinsschichten, die durch eindringendes Wasser aufquellen und riskante Verwerfungen verursachen können – wurden stets mit dem Hinweis auf die „demokratische Legitimation“ des Projekts durch parlamentarische Gremien und Gerichte abgebügelt.

Nicht einmal ein Manifest internationaler Architekten gegen den trotz Bedenken der Denkmalbehörden durchgedrückten Teil­abriß des Bahnhofs, den die Unesco schon in die Weltkulturerbeliste aufnehmen wollte, konnte die Projektträger bewegen, Alternativplanungen auch nur in Betracht zu ziehen. Deutliche Schwächen hat freilich auch das Gegenkonzept der Projektkritiker für einen „Kopfbahnhof 21“, das vor allem den finanziellen Bedarf für eine dann erforderliche Sanierung des Unterbaus der alten Gleisanlagen gewaltig unterschätzt.

Rechtlich ist „Stuttgart 21“ nicht mehr aufzuhalten. Daß die Grünen sich dennoch weiter an die Spitze der Protestbewegung stellen, hat eigennützige Gründe: Nachdem sie mit dem Versprechen, das Projekt zu stoppen, bereits bei der vergangenen Kommunalwahl die CDU als stärkste Fraktion abgelöst haben, hoffen sie darauf, ihren Erfolg bei der Landtagswahl im März noch einmal zu wiederholen und vielleicht sogar in zwei Jahren den bisherigen Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU), der wohl nicht wieder antritt, beerben zu können. „Die Grünen spielen ein schäbiges Spiel mit den Sorgen der Bürger“, sagte der Stadtrat der Republikaner, Rolf Schlierer, dessen Partei sich früh gegen „Stuttgart 21“ positioniert hatte.

Seit der Protest gegen das Bahnprojekt dem Gemeinderat eine linke Mehrheit beschert hat, ist der Ausbau der Sozial- und Integrationsindustrie in Stuttgart in vollem Gange. Mitten dabei: die Linkspartei, die gemeinsam mit dem linksradikalen Protestbündnis „Stuttgart Ökologisch Sozial“ (SÖS) eine Fraktion bildet. So mancher brave Stuttgarter Bürger dürfte sich noch schwer wundern über die politischen Nebenwirkungen seines Dampfablassens gegen „Stuttgart 21“.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen