© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Kieler Parteien stolpern über Wahlgesetz
Schleswig-Holstein: Nach dem Urteil des Landesverfassungsgerichts zu den Überhangmandaten bereitet sich das Land auf Neuwahlen vor
Hans-Joachim von Leesen

Wieder muß ein Landtag in Schleswig-Holstein vorzeitig gewählt werden: Das Landesverfassungsgericht hat am Montag entschieden, daß Teile des Landeswahlgesetzes, nach dem im Herbst 2009 der Landtag gewählt worden war, verfassungswidrig sind. Das Gericht ordnete daher an, daß der Landtag, der in seiner jetzigen Zusammensetzung den Wählerwillen nicht korrekt spiegelt, bis zum 31. Mai 2011 ein neues verfassungskonformes Wahlgesetz beschließen muß. Bis spätestens zum 30. September 2012 müssen nach diesem Gesetz Neuwahlen stattfinden.

Nach dem Urteil fragen sich viele Beobachter: Was ist in Schleswig Holstein los? Es ist eines der kleinen Flächenländer, aber dafür auch eines der am höchsten verschuldeten. Seit Jahren schleppt es gewaltige Probleme mit sich, ohne daß – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – auch nur Ansätze zu deren Bewältigung zu erkennen wären. Manche hatten gehofft, daß die Große Koalition, die von 2005 bis zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode 2009 am Ruder war, mit ihrer satten Mehrheit wenigstens einige der Probleme erfolgreich angeht, doch erschöpfte sie sich in internen Streitereien. Das führte dazu, daß Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) die Vertrauensfrage stellte in der Absicht, sie zu verlieren. So geschah es. Der Landtag löste sich auf.

Carstensen bereitet seinen Rückzug vor

In den Wahlkampf waren CDU und FDP mit dem Versprechen gezogen, im Falle eines Sieges gemeinsam die Regierung zu bilden. Allerdings entfielen auf beide Parteien zusammen nur 744.950 Zweitstimmen, während SPD, Grüne, Linkspartei und der dänische Südschleswigsche Wählerverband 772.445 Stimmen auf sich vereinen konnten. Trotzdem entfiel auf CDU und FDP ein Landtagssitz mehr als auf die anderen Parteien. Diese verquere Sitzverteilung war dem Landtagswahlgesetz zu verdanken. Es war zurückzuführen auf die Überhangmandate, die entstehen, wenn eine Partei so viele Wahlkreise direkt gewonnen hat, daß die Zahl ihrer Mandate höher ist als ihr nach dem prozentualen Ergebnis der Zweitstimmen zustehen. Ihr verbleiben zwar die „Mehrstimmen“, doch „sind auf die noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist“, wie es in dem Text heißt. Ein Teil dieser Überhangmandate soll durch sogenannte „Mehrsitze“ ausgeglichen werden, aber keineswegs alle. Sonst wäre der Landtag statt auf die in der Verfassung festgelegte Zahl von 69 Abgeordneten auf 101 Mandate angewachsen, eine absurde Vorstellung bei einem so kleinen – und dazu noch am Rande der Pleite taumelnden – Land mit gerade 2,2 Millionen Wahlberechtigten. So blieben drei der Überhangmandate der CDU „nicht ausgeglichen“, was zu der schiefen Sitzverteilung führte.

Dieser im Landeswahlgesetz festgeschriebenen Regelung, die selbst ausgewiesenen Experten ein Rätsel blieb, machte nun das Landesverfassungsgericht ein Ende. Spätestens im September 2012 wird der Landtag also neu gewählt. Wie die Neuwahl ausgehen wird, entzieht sich zur Zeit jeder Spekulation. Die beiden großen Parteien hatten bereits bei der Wahl 2009 schwere Stimmenverluste hinnehmen müssen (die CDU sackte von 40,2 Prozent auf 31 Prozent, die SPD von 38,7 auf 25,4 Prozent). Sie haben seitdem nicht an Sympathie gewonnen. Lediglich die Grünen dürften sich freuen. Sie stiegen 2009 von 6,2 auf 12,4 Prozent und hoffen nun, von der Krise zu profitieren.

CDU und SPD stehen derweil vor der Frage, wen sie als Spitzenkandidaten ins Rennen schicken. Carstensen hat mehrfach durchblicken lassen, daß er amtsmüde ist und auch unter den bisherigen Verhältnissen die Legislaturperiode nicht durchgehalten hätte. Der als sein Kronprinz gehandelte Fraktionsvorsitzende Christian von Boetticher ist dank seiner Farblosigkeit im Lande weithin unbekannt und glänzt auch nicht durch ein ausgeprägtes Rednertalent. Er wird aber noch in diesem Jahr Carstensen als Landesvorsitzender beerben. Nach dem Urteilsspruch am Montag kündigte Carstensen an, er werde im Herbst – entgegen früheren Aussagen – nicht erneut für den CDU-Vorsitz kandidieren.

Die SPD scheint unterdessen an den auch in den eigenen Reihen ungeliebten Ralf Stegner gekettet, der sich zu Zeiten der Großen Koalition vor allem durch rüdes Verhalten profilierte. Er dürfte es schwer haben, Sympathisanten zu gewinnen. Selbst in der eigenen Partei hat sich eine Fronde gebildet, die ihn als Spitzenkandidaten verhindern will.

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