© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Tod in den Weiten des Hinterlandes
Rußland: Neue Grabstätten des Kriegsgefangenenlagers 447 entdeckt / Russische Privatinitiative stieß in Deutschland auf wenig Interesse
Bernhard Knapstein

Wie viele Millionen Menschen der vor 65 Jahren zu Ende gegangene Zweite Weltkrieg das Leben gekostet hat, ist unter Historikern bis heute umstritten. Allein die Zahl der deutschen Vermißten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geht noch immer in die Hunderttausende. Über drei Millionen gerieten in sowjetische Gefangenschaft. Etwa 1,3 Millionen von ihnen ruhen in russischer Erde.

Sie starben aufgrund der menschenunwürdigen Bedingungen gerade in den ersten Jahren zwischen 1941 und 1943 mit einer Quote von 60 bis zu 95 Prozent. 1944 betrug die Sterberate 30 bis 40 Prozent, nur die Härtesten und Gesündesten überlebten die Zwangsarbeit in den Ziegeleien von Tscheljabinsk, den Minen von Kemerowo, den Trümmern sowjetischer Städte oder in den Wäldern von Workuta.

Als besonders brutal galt die Arbeit des Holzeinschlags in den Wäldern um Pudosh, östlich des karelischen Onegasees. Das dortige Kriegsgefangenenlager 447 wurde auf Beschluß des Sowjetgeheimdienstes NKWD am 20. Oktober 1945 offiziell eingerichtet und zum 1. Dezember 1947 wieder aufgelöst. Bereits im Jahr 2009 hatten Anatolij Leschkowitsch und seine Freunde vom Verein „Die Nördlichen Inseln“ die Grablagen von 976 deutschen Kriegsgefangenen des Lagers 447 entdeckt, sie mit alten Archivlisten des Lagers verglichen, die Toten und Fundorte datenelektronisch erfaßt, eine deutschsprachige Internetseite eingerichtet sowie Namen und Grablagen dem Deutschen Roten Kreuz, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Deutsch-Russischen Begegnungszentrum in St. Petersburg übermittelt.

Ein solches Engagement ist erheblich mehr, als man hierzulande von einer russischen Privatinitiative erwartet hatte. Vielleicht lag es genau daran, daß keine einzige der in deutscher Sprache angeschriebenen Organisationen auf die Meldung reagiert hat. Vielleicht waren die Organisationen auch schlichtweg überfordert.

Entsprechend irritiert zeigten sich die ehrenamtlichen Pfleger deutscher Soldatengräber über das scheinbar vollständige Desinteresse in der Bundesrepublik. Während das Deutsche Rote Kreuz nach wiederholtem Nachfragen endlich lapidar mitteilt, die Sterbefälle seien der Deutschen Dienststelle (ehemalige WASt) mitgeteilt worden, wird der Volksbund hellhörig. Hier entschuldigt man sich für die fehlende Reaktion und begrüßt ausdrücklich die Initiative der Gruppe um Leschkowitsch. Nach einem Datenabgleich hat der Volksbund nun festgestellt, daß die neue Totenliste mit fast tausend Namen bisher in der Tat nicht bekannt gewesen ist.

Grablagen werden zu großen Friedhöfen zusammengeführt

Das Kriegsgefangenenlager 447 habe über 30 bis 40 Unterlager verfügt, von denen nun 14 bekannt seien, erklärt Fritz Kirchmeier vom Volksbund. Die Aufarbeitung der Leschkowitsch-Liste bringe allerdings noch zwei Probleme mit sich. Erstens, darauf habe Leschkowitsch zu Recht hingewiesen, seien die Namen zweimal übersetzt worden, da die historischen Gefangenenlisten keine deutsche Schreibweise der Namen enthalten habe und das Kyrillische nun erneut ins Deutsche rückübersetzt worden sei. Zweitens wartet der Volksbund noch auf die Übermittlung der Namen von über 700.000 Verlustfällen durch die Deutsche Dienststelle, die einen Datenabgleich überhaupt erst möglich macht. Das könne noch Jahre dauern, läßt der Volksbund verlautbaren.

Der Volksbund pflegt derzeit rund 300 Kriegsgefangenenfriedhöfe auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjet­union. Zwischen 1.500 und 6.000 solcher Friedhöfe soll es für die geschätzten 2,2 Millionen deutschen Gefallenen auf dem Gebiet der früheren UdSSR geben. Viele Grablagen werden zu großen Friedhöfen zusammengeführt. Das 1994 in Kraft getretene Kriegsgräberabkommen zwischen Rußland und Deutschland hat entsprechende Kooperationen zwischen dem Volksbund und seinem russischen Pendant „Wojennyje Memorialy“ möglich gemacht und zu repräsentativen Kriegsgräberstätten geführt.

Der Volksbund will sich der neu gefundenen Grablagen annehmen, wenn auch nicht mit höchster Priorität. Auch eine Zusammenführung mehrerer Grabstätten auf die Gedenkstätte Pedrosawodsk ist möglich. Hierhin sollen die Soldatengräber rund um den Onegasee umgebettet werden.

Bis dahin, so Fritz Kirchmeier, habe man noch über Jahre mit der Aufarbeitung einiger tausend Gefallenen-Gräber auf dem Sowjetgebiet zu tun. Das bindet personelle und finanzielle Ressourcen. Eine wichtige Quelle zu diesem Thema ist das jüngst erschienene Findbuch über die „Orte des Gewahrsams von deutschen Kriegsgefangenen in der SU“, das die Stiftung Sächsische Gedenkstätten herausgegeben hat. Es besteht die Hoffnung, daß sich weitere russische Initiativen wie der Verein „Die Nördlichen Inseln“ um deutsche Soldatengräber bemühen, auch wenn nicht immer sofort Gelder für würdige Gedenksteine, Werkzeug und Blumen fließen.

Die Initiative „Lager 447“ im Internet: www.lager447.texno-market.com Die Deutsche Dienststelle: www.dd-wast.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen