© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Völker sind keine Zufallsprodukte
Die Vergehen des Thilo Sarrazin: Nicht zuletzt hat er gegen das deutsche Anthropologieverbot verstoßen
Karlheinz Weissmann

In seinem 1962 erschienenen Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ unterschied Jürgen Habermas zwischen „nicht-öffentlichen Meinungen“, die die Menschen privatim haben, der „öffentlichen Meinung“ im genauen Sinn und der „quasi-öffentlichen Meinung“. Der „quasi-öffentlichen Meinung“ zurechenbare Anschauungen lassen sich auf bestimmte „Institutionen zurückführen; sie sind offiziell oder offiziös als Verlautbarungen, Bekanntmachungen, Erklärungen, Reden usw. autorisiert. Dabei handelt es sich in erster Linie um Meinungen, die in einem verhältnismäßig engen Kreislauf über die Masse der Bevölkerung hinweg zwischen der großen politischen Presse, der räsonierenden Publizistik überhaupt, und den beratenden, beeinflussenden, beschließenden Organen mit politischen oder politisch relevanten Kompetenzen (…) zirkulieren.“

Anfang der sechziger Jahre war noch nicht vorstellbar, welche Wirksamkeit die „quasi-öffentliche Meinung“ erlangen würde, um Sprachregelungen einerseits, Denkverbote andererseits durchzusetzen. Im Laufe der Zeit wurde von ihren Trägern ein Bestand an Auffassungen mit dogmatischer Geltung definiert. Dazu gehört vor allem das, was als korrekt gilt in bezug auf Geschichts-, Identitäts-, Geschlechterpolitik. Wer die deutsche Schuld, den Multikulturalismus, die Beliebigkeit von Sexualität in Frage stellt, ist zu stigmatisieren. Mit dem spricht man nicht. Keinesfalls darf er einer inhaltlichen Entgegnung gewürdigt werden.

Das erklärt hinreichend die Reaktionen auf Sarrazins neues Buch von seiten der Bundeskanzlerin (Organ mit politischen Kompetenzen), seines Parteichefs Gabriel (Organ mit politisch relevanten Kompetenzen), des Zentralrats der Juden (item), des Zentralrats der Türken (item), der Frankfurter Rundschau (große politische Presse), der Süddeutschen Zeitung (item), der taz (item), der Welt (item), der Zeit (item) usw.

Die Feststellungen jedenfalls, daß die Aussagen Sarrazins zur Zuwanderung „verletzend“ auf „Menschen in Deutschland“ wirkten (Angela Merkel), daß seine Argumentation „dämlich“ (Sigmar Gabriel) oder daß er „verrückt“ sei (Arno Widmann), der „Quartalsirre“ (Hartmut El Kurdi) oder seine Thesen „absurd“ (Constanze von Bullion), das alles zielt genauso auf das Auseinandersetzungsverbot wie der fällige Zauberspruch, man sollte jede weitere Beschäftigung mit Sarrazin unterlassen, da das nur eine „Aufwertung“ (Stephan Kramer) für Autor und Buch bedeute.

Der Glauben an das Milieu gegen die Macht des Erbes

Allerdings zeigt das System der „quasi-öffentlichen Meinung“ Ermüdungsanzeichen. Als Indiz kann man die Veröffentlichungen im bürgerlichen Haupt­organ FAZ werten. Dort erlaubt man sich einen Pluralismus besonderer Art, weil niemand zu sagen weiß, wohin die weitere Entwicklung geht. Zuerst hat Christian Geyer einen Text für das Feuilleton schreiben dürfen, während der Herausgeber Berthold Kohler im Leitartikel die Gegenposition formulierte, es folgte Frank Schirrmacher mit einer ganzen Seite in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und am Montag ein größerer Beitrag seines Schützlings Necla Kelek für den Kulturteil.

Im Fall Geyers war kaum anderes als Polemik zu erwarten. Er bezeichnet Sarrazins Buch als „antimuslimisches Dossier“, das die „Allmacht der Genetik“ beschwöre, aus der er das abweichende Sexualverhalten und die hohe Fertilität der Eingewanderten ebenso erkläre wie deren Intelligenzmangel. Geyer liefert eine Reihung von Aussagen, deren Skandalträchtigkeit er vertraut, kombiniert mit Negativurteilen der Autoritäten. Im Kern geht es ihm darum, daß Sarrazin nichts als ein „biologistisches Panoptikum“ zu bieten habe.

Nach allgemeiner Überzeugung der Meinungsführer enthebt der Vorwurf des „Biologismus“ der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung. Auf die von Sarrazin behauptete Vererbbarkeit der Intelligenz, die Intelligenzunterschiede zwischen Ethnien, das Intelligenzgefälle zwischen Autochthonen und Einwanderern aus Afrika und dem Vorderen Orient geht Geyer deshalb nirgends prüfend ein.

Das Verfahren ist typisch, Konsequenz des „Anthropologieverbots“ (Odo Marquard), das die Linke seit den siebziger Jahren erfolgreich verankern konnte. Offene Diskussion oder Rationalität haben dafür nie eine Rolle gespielt, nur ein bestimmtes „sozio-psycho-kulturpolitisches Gemeinverständnis“ (Dieter E. Zimmer), dem sich der Rest der Gesellschaft Stück für Stück unterwarf.

Die Folgen dieser Kapitulation sind auch am Text Schirrmachers deutlich ablesbar, dem man aber zubilligen muß, daß er geschickt den argumentativen Untergrund Sarrazins erhellt. Er geht von einer Bezugnahme auf die angelsächsischen, insbesondere die amerikanischen Debatten aus, nicht nur über die bell curve – also die Untersuchung zum Intelligenzunterschied zwischen Schwarzen und Weißen – , sondern auch über Eugenik und Einwanderungsbeschränkungen, die die USA aufgrund der Sorge vor einer „Rassenverschlechterung“ am Beginn des 20. Jahrhunderts erließen.

Selbst wenn sich Sarrazin in diesem Zusammenhang nicht so auskennen sollte, wie Schirrmacher vermutet, wird man zugeben müssen, daß eine strukturelle Ähnlichkeit mit der von ihm aufgewiesenen Problematik besteht. Gegenargumente hat allerdings auch Schirrmacher  nicht vorzutragen. Er verweist nur etwas hilflos darauf, daß es „Einwände“ gebe oder daß Eugenik einer fatalen historischen Entwicklung den Weg bereitete.

Zum Schluß verlegt er sich auf die Psychoanalyse Sarrazins wie der „Gesellschaft“: der eine wird von „Verzweiflung“, die andere von „Furcht“ getrieben, der eine will „Lösungen“, wo nur „Transformation“ stattfindet, die andere „Biologie“, weil sie ihren „Werten“ nicht mehr traut. Gegen Sarrazins Hinweis auf die Macht des Erbes setzt Schirrmacher den Glauben an das Milieu, gegen den tapferen Pessimismus noch einmal das Credo der Aufklärung: Denn es hätten „Bildung und das Vermögen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, (…) Menschen aus dem gesellschaftlichen Nichts zu den großen Bewegern gemacht, ganz gleich, wer ihre Eltern waren“.

Schirrmacher ignoriert, daß Sarrazin an entscheidender Stelle gar nicht von einer Bezugsgröße „Gesellschaft“ ausgeht, sondern vom „Volk“, das über eine ethnisch bestimmte Identität definiert werden kann, insofern nicht konstruierbar, sondern essentialistisch aufzufassen ist, keine Menge beliebiger Individuen, sondern eine im weiteren Sinn organische Größe. In Sarrazins Gespräch mit der Welt am Sonntag – in dem auch der zu hysterischen Reaktionen führende Satz über das „jüdische Gen“ fiel – hat er das mit unerwarteter Deutlichkeit ausgesprochen und klargestellt, daß Völker keine Zufallsprodukte sind.

Bezeichnenderweise fand bis auf Necla Kelek niemand den Mut, ihm hierin beizupflichten. „Dabei scheint schon der gesunde Menschenverstand nahezulegen“, schreibt Kelek, „daß Ethnien wie zum Beispiel die Völker Anatoliens oder Ägyptens, die über Jahrhunderte von den Osmanen daran gehindert wurden, Lesen und Schreiben zu lernen, bei denen noch heute Mädchen nicht zur Schule gehen dürfen, andere Talente vererbt bekommen als die Söhne von Johann Sebastian Bach und daß es auch bei der Intelligenz so etwas wie die Gaußsche Normalverteilung gibt.“

Kelek äußert auch die Vermutung, daß man Angst als Motiv weniger bei Sarrazin, eher bei seinen Gegnern vermuten müsse und daß sich die Geschlossenheit, mit der die Politische Klasse gegen Sarrazin steht, aus dem Bedürfnis nach einem Feindbild erkläre. In ihren Reihen hat man längst den Realitätsbezug verloren, so daß die Fakten bestritten und die tatsächliche Besorgnis der einfachen Leute entweder geleugnet oder als Borniertheit gedeutet werden.

Läßt sich eine Stimme der Kritik etablieren?

Diesen Zusammenhang thematisierte auch Kohler in seinem Leitartikel und hob die massenhafte Zustimmung für Sarrazin hervor, die keinen Zweifel daran lasse, daß sich hier Volkes Stimme Geltung verschaffe und damit der Widerwille gegenüber den Beschwichtigungsformeln, den Ablenkungsmanövern, den überflüssigen Expertenmeinungen.

Kohler bezieht sich auf das, was Elisabeth Noelle als „doppeltes Meinungsklima“ bezeichnet hat. Gemeint ist eine Lage, die dann entsteht, wenn die Diskrepanz zwischen den Ansichten der tonangebenden Kreise und der – demoskopisch oder heute in den Internetforen faßbaren – Mehrheitsposition immer größer wird.

Die Diskrepanz kann über längere Zeit stabil bleiben, weil die Emanzipation der politischen Führung wie der Medien von der Basis weit gediehen ist und die Methoden der Beeinflussung sich verfeinert haben. Aber die Entwicklung strebt mit Notwendigkeit zum Umschlag, wenn die „Schweigespirale“ ihre Kraft verliert, wenn das Offenkundige den autoritativen Deutungen immer klarer widerspricht und einzelne den Konsens aufkündigen, den die „quasi-öffentliche Meinung“ zu erzwingen sucht.

Habermas hat die Demoskopie immer als Feind-Wissenschaft betrachtet, aber seinerseits darauf verwiesen, daß die Macht des Establishment im Kern bedroht ist, wenn es blindlings die Deckungsgleichheit von quasi-öffentlicher und öffentlicher Meinung behauptet und sich die nicht-öffentliche Meinung dem wachsenden Druck zu entziehen weiß. In dem Fall kommt alles darauf an, ob eine Stimme der Kritik zu etablieren ist, die den Dissens zur Geltung bringen kann.

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