© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Sein Werk dient nicht der Wahrheit!
Der Kritiker als Auslöscher: Höchste Zeit, Marcel Reich-Ranickis Urteil im „Fall Gaiser“ aufzuheben
Thorsten Hinz

Der 90. Geburtstag, den der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki am 2. Juni beging, war kein passender Anlaß, um den Jubilar zu kritisieren. Selbst wenn der Laudator und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher wieder einmal der Neigung zum sinnfreien Überschwang nachgab: „Es ist gut, daß wir so ein Staatsoberhaupt in der literarischen Republik haben.“ – mein Gott, was entschlüpft einem nicht alles bei so seltener Gelegenheit!

Doch warum mußte er auch die Ranküne preisen, die Reich-Ranicki als Mann des Apparats bzw. des Kulturbetriebs beging? „Rückblickend läßt sich sagen, daß damals über den Weg der Literatur ausgehandelt wurde, wer der literarische und geistige Repräsentant eines neuen Deutschland werden sollte. Jawohl, es gab Absprachen und Strategien, es wurden Geheimgespräche anberaumt und Bewerber sortiert, als ginge es um das höchste Amt im Staate.“

Ausdrücklich und lobend hob er hervor, daß Reich-Ranicki den mittelmäßigen Heinrich Böll als Starautor installierte und ihm zum Nobelpreis verhalf, während „Namen wie Gerd Gaiser etwa, der die Hoffnung einer eher restaurativen Kulturkritik war, sich längst nicht mehr in Lesebüchern“ finden.

Gaisers Name findet sich nicht in den Lesebüchern

Was ergibt sich daraus? Erst einmal dies: Sowenig eine Literaturgeschichte der DDR geschrieben werden kann, ohne SED, Stasi und Zensurbehörden zu berücksichtigen, ist vernünftigerweise eine bundesdeutsche Literaturgeschichte möglich, die nicht zugleich das politische Umfeld und die internen Vorgänge im Kulturbetrieb der Bundesrepublik beleuchtet. Ob und in welchem Ausmaß Geheimdienstaktivitäten deutscher wie nichtdeutscher Provenienz auch im Westen eine Rolle spielten, wird für künftige Forschungen eine interessante Fragen sein. Die Annahme jedenfalls scheint naiv und bar jeder Lebenswirklichkeit, daß eine der wichtigsten Produktionsstätten des bundesdeutschen Bewußtseins von entsprechender Einflußnahme verschont geblieben sei.

Der Hinweis auf Gerd Gaiser gab den Anstoß, um nochmals zwei Bücher dieses 1908 geborenen, 1976 verstorbenen Autors zu lesen, in aller Ruhe, Satz für Satz. Der 1958 erschienene Roman „Schlußball“ ist eine konventionelle Zeitkritik an der Wirtschaftswunder-Mentalität: weder besser noch schlechter als Martin Walsers „Ehen in Philippsburg“ oder Heinrich Bölls überambitionierter „Billard um halb zehn“.

Der Grund für Gaisers Auslöschung aus der BRD-Literaturgeschichte, an der sich neben Reich-Ranicki noch Walter Jens und Karlheinz Deschner führend beteiligten, ist der Roman „Die sterbende Jagd“ aus dem Jahr 1953, den Hans Egon Holthusen „gewiß das beste Kriegsbuch in Romanform“ nannte.

Er handelt von einer Jagdfliegerstaffel an der Nordsee im Zweiten Weltkrieg. Die meisten Flieger sind blutjung, aber schon durchweg „Leute der ersten Wahl, denn wenige können ein Jagdflugzeug erfolgreich bedienen“. Weil soviel in sie investiert wurde, gewährt man ihnen Privilegien, werden sie geschont und unterhalten – nicht um ihrer selbst willen, sondern um sie im Anwendungsfall rücksichtslos zu opfern. Sie sind – und fühlen sich auch zunehmend so – verkauft und verraten von ihrer unfähigen Führung, die vom prunkliebenden Luftwaffenchef Hermann Göring personifiziert wird. Die gegnerische Übermacht wird immer erdrückender, so daß ihr Kampf zum chancenlosen „Nachspiel“ gerät, in dem sie der Reihe nach umkommen. Die etwas Älteren unter ihnen haben im Osten die volle Brutalität der Kriegführung erlebt und fragen sich: „Wie soll ich kämpfen, wenn Dinge vorgehen, die uns schänden?“ Aber da sind die soldatische Disziplin und der Ethos des Kampfes, den sie verinnerlicht haben. Über einen von ihnen heißt es, daß er „nicht gelernt (hatte), weniger zu tun als sein Äußerstes“.

Diese Haltung ist kein sinnfreier Selbstzweck. Die Bombenangriffe auf Deutschland werden heftiger, es geht jetzt unmittelbar darum, die eigenen Familien zu schützen. „Wir müssen genau unseren Auftrag erfüllen. Euer Volk hat euch gehätschelt, ihr seid seine Lieblinge, jetzt müßt ihr das Eurige tun. Auswege gibt es nicht. Ihr fliegt jetzt pro aris et focis (für Altar und Herd), falls einer Latein versteht. Unter euch, das ist das eigene Land. Sollen sie von uns enttäuscht werden?“ Woher hätten die jungen Männer die moralische Gewißheit und die Argumente nehmen sollen, um sich dieser Logik zu entziehen? Die Lage dieser jungen deutschen Elite ist ausweglos. Kämpfend zu sterben, wird „in gewissem Sinne (ihr) Vorrecht“.

Auch die größte Tapferkeit kann die technische Unterlegenheit nicht dauerhaft kompensieren. Am Ende des Romans bringen zwei britische Flugzeuge ein deutsches zum Absturz und vollenden dann gegen alle Regeln mit Bordwaffen „die Ausrottung des Oberfähnrichs von Schwersenz“: Denn „gewinnen ist herrlich für den, der gewinnen darf (…) Sie nahmen es nicht persönlich, sie kannten ja auch den Junker von Schwersenz gar nicht. Aber sie waren so unterrichtet, daß er ein Biest sein mußte in seiner Maschine, verächtlich, und, wenn er davonkam, auch ziemlich gefährlich; nun verrichteten sie ihr Werk.“ Gaiser vergleicht das Gemetzel mit „Kains Opfer“, das vom Herrn nicht angenommen wird, weil kein reines Herz dahinterstand.

Vermeintlich restaurativen Schriftstellern wie Gaiser wird vorgeworfen, sie hätten über das Dritte Reich nichts zu sagen gewußt. Ein Vorwurf, der in Wahrheit auf die sogenannte engagierte Literatur zutrifft, wie ein Vergleich zwischen den Soldatenbriefen Heinrich Bölls und seiner Prosa oder die jahrzehntelange Unfähigkeit von Günter Grass zeigt, seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS literarisch zu thematisieren. Gerd Gaiser hat dagegen in der „Sterbenden Jagd“ eine plastische Innenansicht jener Zeit und damit zugleich Stichworte für ihr Verständnis, ihre Rationalisierung und Historisierung gegeben. Und genau das war der Grund, weshalb er aus dem Gedächtnis der literarischen Republik verschwinden mußte, in der Reich-Ranicki als Staatsoberhaupt fungiert!

Reich-Ranicki hat                  lange genug gewirkt

Den letalen Schlag führte er 1963 mit dem Aufsatz „Der Fall Gerd Gaiser“. Eingangs äußerte er sich anerkennend über dessen Sprachkunst, um ihn dann als NS-hörigen „Fanatiker“ zu kennzeichnen, der die deutsche Niederlage betrauere. Geradezu grotesk ist der Vorwurf, Gaiser lehne die „rationale Auslegung von Geschehnissen und Zusammenhängen“ ab.

Als besonderer Frevel erschien Reich-Ranicki, daß er das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg im Mythos aufzuheben und in dem Geschehen eine Wiederkehr des Immergleichen entdecke. Wer vor der neuen Inquisition des Literaturbetriebs bestehen wollte, hatte sich zum Dogma zu bekennen, daß zwischen 1933 und 1945 das weltgeschichtliche Kontinuum aufgesprengt und eine besondere, untilgbare Schuldqualität angehäuft worden sei. Gaisers Todsünde war es, diese Jahre in das menschheitliche Erfahrungsspektrum einzufügen, das im Mythos symbolhaft ausgeformt ist. „Sein Werk dient nicht der Wahrheit!“ endet Reich-Ranickis Aufsatz, den manche für den Beginn der bundesdeutschen Literaturkritik halten.

Dieser Mann hat lange genug gewirkt. Die Zeit ist überreif, die Verwirrung zu beenden, ein neues Kapitel aufzuschlagen und – ein verdrängtes, vergessenes Meisterwerk wiederzuentdecken!

Literaturempfehlung: Thorsten Hinz, Literatur aus der Schuldkolonie. Schreiben in Deutschland nach 1945. Band 20 der Reihe Kaplaken, Edition Antaios, Schnellroda 2010, 96 Seiten, kartoniert, 8,50 Euro

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