© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Immer im Windschatten des Zeitgeists
Bettina Greiner hat eine umfassende Studie über das verbrecherische Lagerwesen der Sowjets in ihrer Besatzungszone vorgelegt
Willi Leppler

Daß eine gründliche Untersuchung zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in Deutschland und ihrer Wahrnehmung bisher fehlte, dürfte nicht zuletzt am herrschenden Zeitgeist liegen, der inzwischen auch von der für diesen Terror mitverantwortlichen Täterpartei geprägt wird. In ihrer Dissertation geht die Historikerin Bettina Greiner der Frage nach, warum das offensichtliche Unrecht des sowjetischen Lagersystems im Gegensatz zu den NS-Untaten so wenig wahrgenommen oder sogar verdrängt wird.

Ausführlich geht sie im Kapitel „Haftmaßnahmen“ auf die diesbezüglichen sowjetischen Befehle ein. Diese „Quellentreue“ trübt, wie übrigens auch in den von ihr herangezogenen „grundlegenden Darstellungen“, den Blick auf die Wirklichkeit der Verhaftungswellen, die nach Kriegsende über die Bevölkerung der Sowjetischen Zone hereinbrachen und ihre Opfer jahrelang wie in Schwarzen Löchern verschwinden ließen. Keinem Speziallagerhäftling wurde bei seiner Festnahme ein besatzungsrechtlicher Haftgrund genannt. Inwieweit die Tätigkeit der Sowjetischen Militärtribunale in diesen Zusammenhang gehört, problematisiert die Autorin selbst einleitend in dem Abschnitt „Spruchtätigkeit der SMT“.

Viel stärker realitätsbezogen wird der Leser im zweiten Kapitel, „Hafterfahrungen“, mit der unglaublichen Willkür und der erniedrigenden und brutalen Verhörpraxis, mit der Lagerwirklichkeit, der menschenunwürdigen Unterbringung inklusive der völlig unzureichenden Ernährung konfrontiert. Allerdings müssen die auf sowjetischen Quellen beruhenden Angaben über die Ernährungssätze – selbst halbiert – jedem Häftling als Verhöhnung erscheinen, der 1945/46 verhungernd und unter unvorstellbaren hygienischen Zuständen, oft von Kopf bis Fuß mit eitrigen Ekzemen überzogen, halbverfault dahinvegetierte. Die in diesem Zusammenhang von der Autorin am Beispiel des Lagers Sachsenhausen ermittelte Wirklichkeit des Lagerlebens, „Am schlimmsten waren die Deutschen“ – womit der Terror der Funktionshäftlinge über die „gewöhnlichen“ Häftlinge gemeint ist –, läßt sich so nicht auf alle anderen Lager übertragen. Von den Lagern Fünfeichen oder Ketschendorf sind derartige Erfahrungen nicht überliefert.

Im letzten Teil der Arbeit geht es um den Ort der sowjetischen Speziallager  in der „deutschen Erinnerungskultur“ und seinem Verhältnis zu den NS-Konzentrationslagern. Die zur Beantwortung dieser Frage „unhintergehbare Grundlage“ ist für die Autorin die Anerkennung deutscher Verbrechen und die Würdigung ihrer Opfer. Anders gesagt: ohne deutsche Verbrechen keine Speziallager. Oder, weiter gefragt: Ohne deutsche keine sowjetischen Verbrechen?

Nach dieser Auffassung scheint es nur folgerichtig, wenn sich die Speziallagerhäftlinge in einer „Abhängigkeitsfalle“ wiederfinden, aus der zu entkommen nur denen gelingt, die glaubwürdig nachweisen können, daß sie unschuldig gelitten haben – ein Nachweis, den von NS-Konzentrationslagerhäftlingen zu Recht niemand verlangt. Die Unterstellung, daß die Erfahrungsberichte und Häftlingserinnerungen die NS-Verbrechen zu relativieren suchen, ist wohl auch ein Ergebnis der selbstgewählten „unhinterfragbaren Grundlage deutscher Erinnerungskultur“. Dazu gehört, daß in diesem Zusammenhang die historische Rolle der Sowjetunion im Zweiten  Weltkrieg weder erwähnt noch problematisiert wird, und die Aussage, daß die Speziallager keine Todeslager waren.

Selbstverständlich waren sie keine rassistischen Vernichtungslager, wie das NS-Regime sie seit etwa 1942 betrieben hat. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß die Toten des sowjetischen Gulag-Systems lediglich Opfer eines „zynischen Desinteresses am Leben oder Sterben der Gefangenen“ waren, dürfte weder den Opfern der Speziallager noch den Millionen Toten des sowjet-kommunistischen Terrors gegen die eigene Bevölkerung – und schon gar nicht den Opfern von Katyn – moralisch, aber auch historisch gerecht werden. Spätestens hier muß wohl an die deutsch-sowjetische Bündnispartnerschaft bis 1941 erinnert werden, die kaum besser illustriert werden kann als mit einem Satz aus einer Rede des sowjetischen Außenministers Molotow vom 31. Oktober 1939 (drei Tage nach der Aufteilung Polens zwischen NS-Deutschland und der UdSSR) zur Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland: „Es ist deshalb nicht nur unsinnig, sondern verbrecherisch, solch einen Krieg zu führen – einen Krieg zur ‘Vernichtung des Hitlerismus’, der als Kampf für die ‘Demokratie’ getarnt ist.“

Allein wegen der Fragestellung des Buches, aber auch wegen seiner heute fast revolutionär wirkenden Schlußfolgerung, daß es „keinen Grund gibt, die Speziallager nicht bei dem Namen zu nennen, der ihnen zusteht: Konzentrationslager“, wünschte man sich von der Autorin mehr Mut, sich von den auch die Geschichtswissenschaften erfassenden Zeitgeist-Tendenzen zu distanzieren.

Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2010, gebunden, 525 Seiten, 35 Euro

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