© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Ignoranz, Desinteresse, Angst und Mythen
Deutschland und seine demographische Entwicklung / Eine Existenzfrage im Brennpunkt von Wertungen und politischem Kalkül
Jürgen Liminski

Einer der größen Demographen des vergangenen Jahrhunderts, der Franzose Alfred Sauvy, prägte den ahnungsvollen Satz: „Entweder unsere Kinder oder die der anderen.“ Auf Dauer sieht es in Deutschland eher nach den Kindern der anderen aus. Denn es ist ein statistisch nachweisbares Faktum, daß „bei den unter Vierzigjährigen die Zugewanderten in vielen Großstädten ab 2010 einen Anteil von fünfzig Prozent erreichen werden, nur bei den Älteren bleiben die Deutschen in allen Regionen in der Mehrheit“ (Herwig Birg). Ferner: Der Migrantenanteil in der Gruppe der unter 25jährigen beträgt insgesamt 27 Prozent (Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2005), die Geburtenquote deutscher Frauen liegt bei 1,2 Kindern pro Frau, bei Zugewanderten bei 1,9 Kindern; jedes dritte Kind hat heute einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt). Sicher, die Arbeitslosenquote ist bei Ausländern etwa doppelt so hoch, 75 Prozent aller arbeitslosen Ausländer haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, und die Belastung der Sozialsysteme durch Zuwanderung schwankt pro Person je nach Länge des Aufenthalts zwischen 2.300 und 1.300 Euro. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Dies sind nur Zahlen – wer sie als Wertung begreift, wertet selbst.

Ein einziger Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaften

Diese Tatsachen sind Folgen demographischer Veränderungen, sie verändern das Gesicht der Gesellschaft, sie haben Einfluß auf die Wirtschaft, sie werden die Zukunft prägen. Man muß das zur Kenntnis nehmen und dann entscheiden, ob man solche Prägungen will oder nicht. Die Politik hat solche Daten lange verdrängt. Demographie blieb für sie immer ein Thema mit Hautgout, besonders in Deutschland.

Der lange Schatten der braunen Diktatur, die alle Lebensbereiche, gerade die Familie und ihre Zeugungs- und Erziehungskräfte, unter rassistische Vorgaben gestellt hatte, wirkte in den Köpfen nach, besonders in den Köpfen der 68er, die die Restauration und Rehabilitation der Familie als braunes Remake brandmarkten. Wer sich bis in die neunziger Jahre zu eifrig für Familie engagierte, stand sofort unter Nationalismusverdacht, und das gilt für bestimmte, meist multikulturell denkende Kreise im politisch-medialen Establishment auch heute noch.

In Deutschland sind Mythen, die mit Volk und Vaterland zu tun haben, offenbar zählebiger als anderswo, sie wechseln nur gelegentlich mal das Gewand. So feiert Thomas Robert Malthus derzeit ein neues Comeback in der Ökologie: Sein Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs – das zentrale Element der malthusianischen Theorie, das noch in den Studien „Grenzen des Wachstums“ und „Global 2000“ des Club of Rome einen nachhaltigen Niederschlag fand – wird jetzt schlicht auf das Klima und die Umwelt angewandt. Dabei sind die fatalen Theorien von Malthus längst und mehrfach widerlegt, „das dümmste Buch der Weltliteratur“ nannte schon Werner Sombart das „Bevölkerungsgesetz“ des englischen Gelehrten.

Es war eigentlich sogar schon vor Erscheinen widerlegt durch die Arbeiten des deutschen Demographen Johann Peter Süßmilch und sein Buch über die Tragfähigkeit der Erde, erschienen 1741, mit erstaunlich genauen Berechnungen. Und dennoch finden sich, wie der renommierte Demograph Herwig Birg sagt, stets Politiker und „Gelegenheitsdemographen“, die beim Thema Bevölkerungswachstum immer noch warnend die Stimme heben, während das Schrumpfen der Zahl der Germanen fast freudig begrüßt wird. Man hat dann schnell das Argument zur Hand, daß das Schrumpfen der Bevölkerung in Europa durch das Wachstum in Afrika oder Asien neutralisiert werde. Herwig Birg meint dazu lakonisch: Das wäre so, wie wenn man mit einem Bein in einem Eimer voll heißem und mit dem anderen in einem Eimer mit eiskaltem Wasser stünde. Insgesamt stimme die Temperatur, trotzdem sei das kein angenehmes Gefühl.

Erst die Auswirkungen des demographischen Defizits auf Wirtschaft, Wohlstand und vor allem auf die Sozialsysteme haben ein erstes Umdenken bewirkt. Aber auch heute nimmt man die Bevölkerungswissenschaften noch nicht wirklich ernst. Sonst hätte man nicht zugelassen, daß von den vier Demographie-Lehrstühlen um die Jahrhundertwende in Deutschland heute nur noch einer existiert. Diese für die Gesellschaft und ihre Zukunftsplanung so unverzichtbare wissenschaftliche Disziplin kann man nicht nur einem universitären Institut (Rostock) und einigen Stiftungen sowie nicht-universitären Instituten überlassen, die zudem gelegentlich in den Ruf kommen, wegen ihrer Politik- und Marktabhängigkeit ihre Ergebnisse von bestimmten Interessen oder Sponsoren leiten zu lassen. Dieses staatliche Desinteresse an der demographischen Forschung hat sozusagen Tradition. Schon Adenauer meinte (bei der Einführung der dynamischen Rente 1957 auf die Möglichkeit angesprochen, daß spätere Generationen möglicherweise keine oder weniger Kinder haben könnten), Kinder bekämen die Leute immer. Der Satz ist zwar protokollarisch nirgends vermerkt. Er entspricht jedoch der Ansicht der fünfziger Jahre.

Bevölkerungspyramide hat sich zum Pilz entwickelt

Seit der späten Mitte der sechziger Jahre aber war die Entwicklung nicht mehr zu verkennen, und seit 1972 hat sich die Zahl der Geburten in Deutschland von 1,3 Millionen auf rund 670.000 im vergangenen Jahr glatt halbiert. 2009 hatte die niedrigste Geburtenzahl seit 1945. Aber trotz der absehbaren Entwicklung, die die Enquete-Kommission des Bundestages zum demographischen Wandel schon Mitte der achtziger Jahre voraussagte, hat die Politik nie ernsthaft versucht gegenzusteuern. Diese Nach-uns-die-Sintflut-Politik wurde vom langjährigen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm noch verschärft. Der gab in den achtziger Jahren die Devise aus, Prognosen über das Jahr 2000 hinaus seien nicht seriös. Vermutlich wußte auch er, daß gerade Prognosen der Demographie zu den treffsichersten im ganzen Wissenschaftsbetrieb gehören. Die Rechnungen, die zum Beispiel Herwig Birg bereits in den siebziger Jahren in seinem damals noch existierenden Institut für Bevölkerungswissenschaft und Sozialpolitik für die Jahre nach der Jahrtausendwende anstellte, weichen um weniger als ein Prozent von den tatsächlichen Werten der Jahre 2005 und 2006 ab.

Heute hat die demographische Form sich von der Pyramide schon fast bis zum Pilz entwickelt. Allerdings ist auch zu konstatieren, daß die Geburtenraten weltweit unter den Generationenersatz (2,1 Kinder pro Frau) sinken. Die Frage ist: Wo und bei wem sinken sie langsamer? Noch einmal Sauvy: „Niemals gab es in der Geschichte den Fall, daß ein Land mit sinkender und alternder Bevölkerung eine glückliche Zukunft gehabt hätte.“ Das ist kein Schicksal. Man muß sich nur der Lage bewußt sein und sich ihr stellen, um sie ändern zu können.

Foto: Die Deutschen sind bald nur noch bei den Älteren in der Mehrheit: Bereits jedes dritte Kind hat heute einen Migrationshintergrund

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