© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Sarrazin-Debatte
Der Bann ist gebrochen
Dieter Stein

Der Zyklus der Sarrazin-Debatte nähert sich seinem Ende. Die Erregungskurve fällt bereits und die erste Hysterie beginnt sich zu legen. Jedenfalls bei der veröffentlichten Meinung. Nachdem die Schlagzeilen der Presse tagelang von der Auseinandersetzung um Buch und Thesen von Thilo Sarrazin beherrscht wurden, drängen jetzt wieder andere Themen nach vorne. Im Medienbetrieb muß schließlich jede Woche eine neue Sau durchs Dorf gejagt werden. Auch wir haben uns gefragt: Nochmal mit Sarrazin aufmachen? Nochmal auf mehreren Seiten das Thema „weiterdrehen“, wie es im journalistischen Jargon heißt? Kommt es den Lesern nicht längst zu den Ohren heraus?

Die Boulevardzeitung mit den großen Buchstaben, die die Debatte durch einen über eine ganze Woche gezogenen Vorabdruck maßgeblich in Gang gesetzt hat, macht inzwischen Auflage mit dem Vorabdruck aus dem Buch des Entführungsopfers Natascha Kampusch, und Alice Schwarzer darf vom Gerichtsprozeß gegen Kachelmann berichten. Die Spitzen der Parteien atmen auf, denn sie zählten schon die Tage, wann sie endlich von den für sie peinlichen Thesen des Buchhalters ihres politischen Versagens erlöst werden.

Was bleibt also von der Sarrazin-Debatte? Kehren wir zum gewohnten politischen Alltag zurück – oder hat sich die Republik verändert? Tatsache ist: Es ist nicht gelungen, den Tabubrecher politisch und persönlich zu erledigen. In der vergangenen Woche begann sich plötzlich der Wind zu drehen. Während zunächst die prominenten Verteidiger Sarrazins an den Fingern einer Hand abgezählt werden konnten und sich der Pressemob zur Jagd auf den Unbeugsamen formierte, wächst die Zahl derer, die sich jetzt auf seine Seite schlagen.

Bei Anne Will konstatierte vergangenen Sonntag der konservative Philosoph Norbert Bolz, der Sarrazins Buch als „Geschichtszeichen“ einer historischen Wende deutet: „Die Leute lassen sich nicht länger für dumm verkaufen, sie lassen sich nicht länger zum Schweigen bringen! Das hat Sarrazin auf jeden Fall erreicht! Die Leute sind nicht mehr bereit, sich von der politischen Klasse und von besonders arroganten neuen Jakobinern, auch in den Feuilletons, den Mund verbieten zu lassen.“

Roger Köppel, Herausgeber der rechtsliberalen Schweizer Weltwoche, stellte in einem Gastbeitrag für die FAZ fest: „Die Politiker mißtrauen dem Volk, von dem sie gewählt werden. Die Meinungsvielfalt wird von oben gesteuert und mit Drohkulissen eingeschränkt. (...) Es läßt sich eben leichter regieren, wenn das Spektrum der erlaubten Gedanken von vornherein darauf beschränkt wird, was die Regierenden für richtig halten.“ Der Spiegel-Kolumnist Matthias Matussek resümiert: „Fest steht aber seit Sarrazin, daß Einschüchterungen durch das publizistische Justemilieu und seine Drohungen mit dem gesellschaftlichen Abseits nicht mehr funktionieren, denn das Publikum hat einen hochentwickelten Instinkt für Fairneß.“ Es ist eine Tür zu einer freieren politischen Debatte aufgestoßen. Jetzt gilt es sie offenzuhalten!

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