© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Hexenjagd
Der „Fall Sarrazin“: Genese einer Kampagne
Erik Lehnert

Für Henryk M. Broder ist die aktuelle Kampagne gegen Thilo Sarrazin „der erste Fall von Hexenjagd in Deutschland seit Mitte des 17. Jahrhunderts“. Damit hat Broder einerseits die Dimension des Geschehens drastisch bezeichnet, andererseits unterschlägt er, daß sich solche „Hexenjagden“ in der Bundesrepublik regelmäßig beobachten lassen.

Sarrazin ist in dieser Hinsicht keineswegs ein Einzelfall. Ob es sich um Jürgen W. Möllemann, Martin Hohmann oder Eva Herman handelte – die Kampagnen waren ähnlich gestrickt. Die Betroffenen hatten an einem Tabu gerüttelt und damit den geballten Zorn von Politik und Medien auf sich gezogen. Das Resultat waren Arbeitsplatzverlust und Stigmatisierung – der soziale Tod. Daß Broder sich daran nicht erinnern mag, zeigt recht deutlich, daß wir es bei Sarrazin mit einem, in jeder Hinsicht, besonderen Fall zu tun haben. Die Empörungsmaschine liefe sonst reibungsloser und Broder würde sich nicht auf die Seite von Sarrazin schlagen.

Für Sarrazin selbst muß es sich bei der aktuellen Kampagne eher um ein Déjà-vu-Erlebnis handeln. Etwas mehr als ein Jahr ist es nur her, daß Sarrazin mit seinen Äußerungen gegenüber der Zeitschrift Lettre International ähnliche Reaktionen provozierte. Die Kampagne ging damals in dieselbe Richtung. Zuerst hieß es „Sarrazin beleidigt Türken“, dann stellte ihn der Sprecher des Zentralrats der Juden in eine Reihe mit Göring, Goebbels und Hitler, es gab eine Anzeige wegen Volksverhetzung, Forderungen nach Ablösung als Bundesbankvorstand wurden laut, und schließlich wollte ihn die SPD rauswerfen.

Die Zustimmung in der Öffentlichkeit war schon damals so gewaltig, daß aus den Leitmedien alsbald versöhnlichere Töne zu vernehmen waren. Die Kampagne scheiterte, die einzige Konsequenz für Sarrazin war, daß ihm der Bereich „Bargeld“ im Vorstand der Bundesbank entzogen wurde.

Sarrazin hatte das im Lettre-Interview genauso vorhergesehen: „Die Medien lieben es, wenn Krach ist. Das finden sie toll, und wenn es unterhaltsam ist, auch. Wenn man beides bietet und den Eindruck erweckt, daß man seine Sache versteht, bekommt man mit der Zeit auch für kontroverse Stellungnahmen eine relativ hohe mediale Zustimmung.“

Von der Heftigkeit der Reaktionen dürfte er damals dennoch überrascht gewesen sein. Das dürfte bei seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht mehr der Fall gewesen sein. Im Gegensatz zum Interview wußte Sarrazin diesmal, worauf er sich einläßt. Das war für ihn und seinen Verlag allerdings kein Grund, leise Töne anzuschlagen. Im Gegenteil: Ob es den Islam oder die Bildung betraf, immer gab es von Sarrazin drastische, direkte Worte.

Aus Medien und Politik gab es dafür noch vor Erscheinen des Buches heftigen Widerspruch. Sogar die Kanzlerin meldete sich zu Wort (was sie bei der Lettre-Debatte nicht getan hatte). Es handele sich um Äußerungen, die „für viele Menschen in diesem Land nur verletzend sein können, die diffamieren“. Noch vor dem Erscheinen des Buches waren damit die Fronten klar. Auf der einen Seite die Bevölkerung, die Sarrazin mehrheitlich unterstützt, weil sie in Sarrazins Beschreibungen ihre Wirklichkeit wiedererkennt. Auf der anderen Seite eine Phalanx der Meinungsmacher aus Politik und Medien, die Sarrazin vorwerfen, ein Brunnenvergifter zu sein.

In diesen Stellungskrieg platzte dann das Interview mit der Welt am Sonntag, in dem Sarrazin auf die Frage, ob Völker eine gemeinsame Identität hätten, unter anderem das „Juden-Gen“ als Beleg für diese Annahme erwähnte. Damit war der Geist aus der Flasche, die Debatte eskalierte und nahm einen unvorhergesehenen Verlauf.

Jetzt wurde nur noch über das „Juden-Gen“ gesprochen, und es gab eine Welle medialer Empörung, auf der die Bundesbank die Ablösung Sarrazins und die SPD den Ausschluß vorbereiten konnten. Es ging nicht mehr um Einwanderung, sondern nur noch um Vererbung. Sarrazin sollte als Rassist dastehen, um ihn endgültig zu Fall bringen zu können.

Die Rechnung ging nicht auf: Sarrazin korrigierte die „Eselei“ dieser Äußerung und bescherte Beckmann und Plasberg Traumquoten. Die Zustimmung in der Bevölkerung blieb konstant hoch. Trotzdem beantragte der Bundesbankvorstand letzten Donnerstag die Abberufung Sarrazins beim Bundespräsidenten. Der hatte einen Tag zuvor die Bank indirekt dazu aufgefordert.

Vergangenen Samstag titelte die Bild-Zeitung dann: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“. Sie traf damit exakt den Nerv des öffentlichen Unverständnisses über das Vorgehen der Politik: Warum muß sich Sarrazin mobben lassen und seine soziale Existenz riskieren, wenn er ausspricht, was die Mehrheit denkt? Auf diese Frage gibt es keine einleuchtende Antwort. Die Kampagne droht damit ein zweites Mal zu scheitern.

Erschwerend für Sarrazins Gegner kommt jetzt hinzu, daß Sarrazin mittlerweile über viel Macht verfügt, weil er die Hoffnungen der Menschen auf sich vereint. Deshalb kann es sich Sarrazin leisten, den Bundespräsidenten vor einem „politischen Schauprozeß“ zu warnen. Denn: Selbst wenn die Rechnung aufgeht und Sarrazin von Wulff entlassen wird, der Verlierer steht fest, und er wird nicht Sarrazin heißen.

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