© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Verluste
Karl Heinzen

Die vor knapp zwei Jahren ausgebrochene Finanzkrise hat lediglich in Island zu nennenswerten politischen Verwerfungen geführt. Die Systemfrage kam nirgends auf die Tagesordnung, weil eben dieses System selbst seine Flexibilität unter Beweis stellte, indem es zentrale marktwirtschaftliche Grundsätze außer Kraft setzte und zu dirigistischen Maßnahmen wie Verstaatlichungen, öffentlichen Hilfspaketen und Regulierungen griff. Es gibt kaum ein Land, in dem die Staatsgewalt ihrer Kernaufgabe, die gemeinschaftlichen Geschäfte der wirtschaftlichen Eliten zu verwalten, nicht mit überaus großem Erfolg nachgekommen wäre.

Dies war nur möglich, weil die Bürger nicht in Panik verfielen, sondern diszipliniert blieben und Leidensbereitschaft signalisierten. Erleichtert wurde ihnen ihre Gelassenheit durch das gute Gefühl, daß die Hauptlast der Krise ausnahmsweise die Reichen zu tragen hätten. Da nur verlieren kann, wer bereits etwas hat, waren es tatsächlich sie, die das Gros der Vermögensverluste von allein in Deutschland knapp 140 Milliarden Euro beklagen mußten. Spektakuläre Medienberichte über Milliardäre in Existenznöten und Klagen der Anbieter von Luxusgütern über die Konsumzurückhaltung ihrer Klientel versöhnten die Massen mit der Aussicht auf neue Belastungen und Einschränkungen im Lebensstandard.

Der vielgescholtene Sozialneid hat somit hier einmal einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität geleistet. Nun jedoch, da der Aufschwung eingesetzt hat, droht seine destruktive Natur wieder in den Vordergrund zu treten. Einer Studie des in Berlin ansässigen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge sind die krisenbedingten Verluste der Reichen nämlich längst ausgeglichen und ihr Geldvermögen hat ein neues Allzeithoch erreicht. Auch die Zahl der Millionäre ist emporgeschnellt und bewegt sich auf Rekordniveau.

Damit könnte sich für manche der Eindruck aufdrängen, daß die Finanzkrise die Umverteilung von unten nach oben nicht beendet oder gar umgekehrt, sondern nach einer gewissen Schamfrist weiter beschleunigt hat. Dies macht es erforderlich, daß die Staatsgewalt den Blick nicht allein auf die fiskalische und wirtschaftliche, sondern auch auf die soziale Stabilisierung richtet.

Dabei kann es nicht darum gehen, mehr Wohlstand für alle zu schaffen oder wenigstens anzukündigen. Es gilt vielmehr, die Bürger zur Vernunft zu bringen: Mehr Ungleichheit, mehr Arbeit und ein geringerer Lebensstandard sind der Preis, den sie zu zahlen haben, um zukunftsfähig zu bleiben.

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