© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Doch alle Lust will Ewigkeit
Gesegnet mit einer einzigartigen Stimme: Der großen US-Sängerin Jessye Norman zum 65. Geburtstag
Jens Knorr

Ist es ohnehin schon schwierig, Stimmen zu beschreiben, so ist diese eine unbeschreiblich. Sie strömt in einer Fülle, die nicht erschlägt, in heißglühenden Farben, die nicht verbrennen, sie wird koloraturensicher geführt, aber die Koloraturen sind pure Expression, sie vermag Phrasen zu weiten Bögen zu wölben und ist eines Pianissimo fähig, das schier den Atem verschlägt. Andere Stimmen mögen an ihre Stimme erinnern, ihre Stimme aber erinnert an nichts als an sich selbst. In ihrer Einzigartigkeit ist sie maßstabsetzend – die Stimme von Jessye Norman.

Ist es eine Sopran-, eine Mezzosopran- oder gar eine Altstimme, die da singt? Stimmlagen sind naturgegeben, Stimmfächer sind eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Kluge Sänger suchen sich ihre Partien nach dem Vermögen ihrer Stimme, und das geht bei der Sopranistin Jessye Norman weit über eng gesetzte Fachgrenzen hinaus.

Ist es ein und dieselbe Stimme, die sich unseren Ohren zuerst 1974 als Euryanthe und 1981 als Sieglinde mit der Staatskapelle Dresden unter Janowski, 1982 mit den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Masur einprägte, pathetisch zu den Revolutionsfeierlichkeiten 1989 mit der Marseillaise in der Berliozschen Fassung die Weltennacht erhellte, oder die eingedickte und nicht mehr bruchlose Stimme als Judit in Bartoks „Herzog Blaubarts Burg“ mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Pierre Boulez und in anderen Aufnahmen und bei ihren Auftritten der letzten Jahre, so sie diese nicht kurzfristig absagte? Immer und auch heute noch ist es unverkennbar die Stimme von Jessye Norman, auch wenn die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergehen konnte.

Sie debütierte in Berlin in Wagners „Tannhäuser“

Jessye Norman wurde am 15. September 1945 in Augusta, Georgia, geboren und begann schon als Kind zu singen. Eine Rundfunkübertragung aus der Metropolitan Opera wurde für die Zwölfjährige zum einschneidenden Erlebnis. Die Tochter eines Versicherungsagenten und einer Lehrerin studierte seit 1961 bei Carolyn Grant, später bei Pierre Bernac und bei Elizabeth Mannion, die ihre Schülerin auf den Wettbewerb der ARD 1968 in München vorbereitete. Jessye Norman gewann den ersten Preis und schloß einen Dreijahresvertrag als Ensemble-Mitglied der Deutschen Oper Berlin ab. Sie debütierte 1969 als Elisabeth in Wagners „Tannhäuser“ und sang bald darauf weitere Rollen, wie die Gräfin Almaviva in Mozarts „Le Nozze di Figaro“, diese auch in ihrer ersten Gesamtaufnahme unter Colin Davis.

Sie hat einige der großen Partien gesungen, welche Kritiker ihr nach ersten Auftritten in Deutschland, vor allem nach ihrer ersten CD unter anderem mit Wagners „Wesendonck-Liedern“ vorhergesagt hatten, Selika in Meyerbeers „L’Africaine“ unter Muti (1971), Aida unter Abbado (1972), Cassandra in „Les Troyens“ von Berlioz unter Davis (1972). Sie hat Partien singend erfüllt, die jenseits des allzu Gängigen lagen, Partien in frühen Verdi-Opern (1973 und 1975), in Opern von Haydn (1977 und 1978), Faurés Penelope (1980), Jokaste in Strawinskis „Oedipus Rex“ (1983), Purcells Dido (1985). Aber sie hat sich auch den Verwertungsmechanismen des Musikmarkts unterworfen, als sie Partien auf Tonträger aufnahm, Elsa und Kundry, Santuzza, Salome, die sie nie und nimmer mit Leben füllen konnte.

Über die Gründe für ihren zeitweisen Rückzug aus dem Opernbetrieb nach 1975 ist viel gemutmaßt worden. Während dieser Jahre konzentrierte sich die Sängerin auf das Lied, sowohl das klavier-, als auch auf das orchesterbegleitete. Anfang der Achtziger dann trat eine Jessye Norman vor ihr Publikum, deren nunmehr imposante Erscheinung das nicht eben vorteilhafte Bild von der korpulenten Frau, das frühe Bühnenfotos und Schallplattenhüllen überliefern, vergessen machte – machen sollte.

Die Sängerin inszenierte fortan ihre Auftritte und sich als eine Kunstfigur, die der Musikkritiker Jürgen Kesting ehrfurchtsvoll ironisch als „Schwarze Göttin“ apostrophiert hat. Sie erarbeitete mit dem Theaterneuerer Robert Wilson einen Theaterabend aus Negro Spirituals ihres Repertoires und eine Bühnenversion von Schuberts „Winterreise“, ließ sich von André Heller in den Frauenrollen von Schönbergs „Erwartung“ und Poulenc’ „La Voix Humaine“ inszenieren, arbeitete mit der Komponistin Judith Weir, mit Bill T. Jones, Steve McQueen, Laura Karpman zusammen, sang Programme mit Musik von Michel Legrand oder Duke Ellington und ging 2009 den Wurzeln – „Roots: My Life, My Song“ – ihrer Existenz und ihres Singens nach.

Ihr Singen widerlegt die Welt, wie sie ist

Sie hat alles erreicht, was eine Sängerin nur erreichen kann, weit mehr, als eine schwarze Sängerin noch vor einem halben Jahrhundert erreichen konnte. Erst im Jahre 1960 hatte eine Schwarze, es war Leontyne Price, an der Mailänder Scala und 1961 an der MET singen dürfen. Und als Grace Bumbry in Bayreuth als „schwarze“ Venus Furore machte, da protestierten „Wagnerianer“ brieflich bei der Direktion der Bayreuther Festspiele gegen die Besetzung der Rolle mit der 24jährigen „Negersängerin“. Fünfzig Jahre später hat es eine „Negersängerin“ ganz selbstverständlich zur Ikone der musikalischen Hochkultur gebracht.

Kaum ein politisches Großereignis, kaum eine Inauguration US-amerikanischer Präsidenten, die ohne Jessye Norman auskommt, kaum eine hochkarätige Auszeichnung, die ihr nicht angeheftet wurde. Künstlerische und karitative Organisationen führen sie als Direktoriums-, die Pfadfinder führen sie als einfaches Mitglied. In Augusta bietet die von ihr gegründete Jessye Norman School of the Arts begabten Kindern kostenlose Möglichkeiten zu musizieren, zu schreiben, zu spielen und zu tanzen, zu malen, kurz: ihre innere Existenz zu entdecken. „Bildung, Ausbildung ist alles“, weiß Norman.

Nie ist ihr Singen bloßes Singen, immer macht es etwas hörbar, das weit über das Singen hinausweist und weckt, wie alle Kunst, ein unstillbares Verlangen nach einer anderen Welt in dieser. Welthaltig in jeder Phrase, widerlegt es die Welt, wie sie ist. Man höre Jessye Norman noch einmal die letzten Verse von „Beim Schlafengehen“ singen, noch einmal mit der großen Leonoren-Arie, noch einmal in dem letzten Satz „Der Abschied“ von Mahlers „Lied von der Erde“, überhaupt Mahler – und man versuche zu beschreiben.

In seinem Vierbänder über die „Großen Sänger“ kolportiert Jürgen Kesting folgende Episode: „Nachdem sie in Berlin bei einem Freiluftkonzert in Mahlers d-Moll-Symphonie gesungen hatte, verharrten die 25.000 Besucher am Ende stumm auf ihren Plätzen und entzündeten 25.000 Kerzen. Nach einer Weile nickte sie dem Dirigenten zu und wiederholte das Solo ‘O Mensch! Gib acht!’“

Zu jedem großen Menschen gehört ein Mythos. Jessye Norman, eine der großen Sängerinnen unserer Zeit, hat an dem ihren lange Jahre hart gearbeitet. Freudig arbeiten wir Hörer daran weiter.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen