© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Opfer der Denunziation
Thilo Sarrazin nach seinem Rückzug: Weder Rebell noch Volkstribun
Doris Neujahr

Der Rückzug Thilo Sarrazins aus der Bundesbank hat viele überrascht und auch enttäuscht, denn spätestens ab dem Moment, als er den aktuellen Hauptmieter des Schlosses Bellevue, Christian Wulff, vor einem „Schauprozeß“ gegen seine Person warnte, sah es so aus, als wollte er die Karambolage mit dem politisch-medialen Komplex durchstehen.

Eine Klage gegen seine Entlassung aus dem Bundesbankvorstand, von Wulff letztverantwortlich vollzogen, wäre aussichtsreich gewesen. Für Wulff wiederum war es eine ernüchternde Erfahrung, wie wenig man sich in einer von Denunziation durchseuchten Atmosphäre auf seine Mitstreiter verlassen kann. Wie aus heiterem Himmel wandten sich die gedruckten Medien von ihm ab und warfen ihm fehlende Zurückhaltung und Kompetenzüberschreitung in der Causa Sarrazin vor, obwohl er nur geäußert hatte, was seine Politikerkollegen und die Journalisten von ihm erwarteten. Seine Willfährigkeit wurde ihm deshalb nicht gelohnt, weil den Zeitungsredaktionen aus ihrer Leserschaft inzwischen ein scharfer Gegenwind entgegenschlug, was angesichts sinkender Auflagen und Werbeeinnahmen problematisch ist. Wulff war ihr willkommener Sündenbock.

Das Publikum kann also die veröffentlichte Meinung unter Umständen beeinflussen. Das diskutierte Thema muß dazu klar umrissen und einfach strukturiert sein und mit den Alltagserfahrungen des Durchschnittsbürgers unmittelbar korrespondieren. (Das war in den Kampagnen gegen Martin Hohmann und Jürgen Möllemann nicht der Fall, weshalb beide ohne Unterstützung blieben.) Und sollten die Verhältnisse einmal kippen – egal in welche Richtung –, dann werden die Gesinnungen unserer Meinungsmacher leicht zu haben sein.

Zurück zu Sarrazin. Ein Rechtsstreit mit Christian Wulff hätte, nachdem schon dessen Vorgänger spektakulär aus dem Amt geschieden war, neben der Person des Amtswalters auch die Institution Bundespräsident irreparabel beschädigt und damit an den staatlichen Strukturen gerüttelt. Um das zu verantworten, ist Sarrazin viel zu staatsfixiert. Er ist weder Rebell noch Volkstribun, er ist ein Bürger sozialdemokratischer Prägung, der in der Tradition der preußischen Reformer aus dem frühen 19. Jahrhundert steht. Diese fanden allerdings bei ihrem Monarchen ein offenes Ohr, während Sarrazin wider Willen in die Position des Dissidenten geraten ist.

Neben dem öffentlichen muß ein enormer nichtöffentlicher Druck auf ihn eingewirkt haben, so daß er mit der Verschärfung des Konflikts seine gesellschaftliche Existenz aufs Spiel gesetzt hätte. Diese Existenz umfaßt mehr als die finanzielle Versorgung – in diesem Punkt ist Sarrazin gut bedient –, nämlich die ganze gewohnte Lebenswelt: Es geht darum, ob man weiter als gesellschaftsfähig gilt, ob einem die Kreise, in denen man verkehrt, denen man angehört, weiterhin Zugang gewähren, ob man Einladungen und privilegierte Informationen erhält, ob man in Netzwerken aufgehoben und durch sie geschützt bleibt.

Bei Marcel Proust kann man detailliert nachlesen, wie solche gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsprozesse sich vollziehen und welche tiefgreifenden Auswirkungen sie haben. Schließlich mußte er die Möglichkeit bedenken, daß – wie vor Jahren gegen den Historiker Ernst Nolte – auch Reizgas und Brandsätze zur Anwendung kommen können. Die öffentliche Zustimmung kann solche Gefahren nicht kompensieren, zumal sie in schnellebiger Zeit rasch erlahmt.

Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ war und ist dazu geeignet, einen vergleichbaren Prozeß wie Glasnost und Perestroika anzustoßen. Sarrazin war sichtlich überrascht, welche aggressiven Reaktionen seine schriftlich niedergelegte Sorge um das Staatswohl auslöste. Wobei man gerechterweise hinzufügen muß, daß aus der Perspektive von Politik und Medien das Beispiel Michail Gorbatschows, dieses sowjetischen Reformers von oben, gerade nicht zur Nachahmung einlädt. Ihr Überlebensinstinkt sagt ihnen, daß eine offene Fehlerdiskussion und der gebotene Kurswechsel in der Ausländerpolitik einen unkontrollierbaren Prozeß in Gang setzen würden, der sie am Ende selber in Frage stellt.

So ergreifen sie eine Doppelstrategie: Zum einen wird in Anlehnung an die Praxis der Kommunisten versucht, mittels innerparteilicher Säuberungen die ideologische Einheit wiederherzustellen. Zweitens soll der Geist, der durch Sarrazin und seine Unterstützer – die es zweifellos in großer Zahl gibt – aus der Flasche entwichen ist, unbedingt wieder eingefangen werden. Großzügig wird eingeräumt, daß einige der Kritikpunkte berechtigt sind, doch die Analysen und dargestellten Zusammenhänge seien biologistisch und falsch. Vermehrt schwärmen Jungjournalisten aus, um im Stil der SED-Propaganda Berichte und Reportagen zu verfassen mit Titeln wie: „Das Wunder von Kreuzberg“, „Die Supertürken“ oder „Ahmet wird Rechtsanwalt“. Das alles gibt es, aber um welchen Preis! Die Strategie lautet: Noch mehr Staat, noch mehr Integrations- und Gleichstellungsbehörden, noch höhere Steuern, Sozialausgaben, Verschuldungen, noch mehr Toleranz- und Gesinnungsdruck.

Thilo Sarrazin hat das Seine getan. Wer macht weiter?

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