© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

„Der Geist ist aus der Flasche“
Integrationsdebatte: Thilo Sarrazins Lesereise entwickelt sich zu einem Triumphzug / Beobachtungen in Potsdam und Berlin
Felix Krautkrämer / Lion Edler

Fast könnte man völlig vergessen, daß der Mann seit Wochen von Journalisten und Politikern gejagt wird, daß er bereits Morddrohungen erhalten hat, und daß draußen ein wütender linker Mob steht und ihn als „Rassist“ beschimpft: Thilo Sarrazin. Stoisch und ohne jedes Anzeichen von Nervosität betritt der ehemalige Berliner Finanzsenator am vergangenen Donnerstag die Bühne des Potsdamer Nikolaisaals. Im Publikum ist es dafür um so lebendiger. Über 700 Menschen feiern ihren Helden wie einen Popstar, stürmischer Applaus mischt sich immer wieder mit „Bravo“-Rufen. Sie sind gekommen, um den Mann zu erleben, dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ derzeit die Nation bewegt.

Daß der Sozialdemokrat überhaupt hier reden darf, hat sich erst in letzter Minute ergeben. Eigentlich sollte die Veranstaltung im Potsdamer Kulturgebäude „Waschhaus“ stattfinden, doch wurde sie aufgrund von Drohungen abgesagt. Man könne für die Sicherheit der Veranstaltung nicht garantieren, rechtfertigte das Potsdamer Kulturzentrum seine Entscheidung.

Personenschützer weichen ihm nicht von der Seite

„Es sei beschämend, wenn Buchhändler aus Angst vor linksradikalen Übergriffen kapitulieren und Lesungen sich der Zensur aus dem Milieu der politischen Korrektheit unterwerfen“, kritisiert die brandenburgische Landesvorsitzende der CDU, Saskia Ludwig, die Absage. Die Fraktionschefin im Landtag ist deswegen extra zu der Diskussionsrunde mit Sarrazin gekommen, um ein Zeichen für die Meinungsfreiheit zu setzen. Nicht alle Potsdamer sehen das so: Ein paar hundert Linke protestieren mit Plakaten und Trillerpfeifen vor dem Nikolaisaal gegen Sarrazins Auftritt und skandieren „Halt’s Maul“. Doch es bleibt friedlich.

Ein Paar mittleren Alters hat den Spießrutenlauf vorbei an den Demonstranten geschafft. „Weeßt du noch“, fragt der Mann seine Begleiterin, „wie die Brijaden vonne FDJ früher ihre Parolen jebrüllt haben? Dit is wie früher.“ Im Vorraum des Lesesaals angekommen, müssen erst einmal alle Taschen und Jacken abgegeben werden – aus Sicherheitsgründen. Doch es scheinen nur wenige Sarrazin-Gegner im Saal zu sein. Nur vereinzelt muß Sarrazin sich in der Diskussion Kritik anhören. Immer wieder wird er von Applaus unterbrochen, besonders wenn er sich hier und da eine Spitze gegen die etablierten Medien und die politische Klasse erlaubt. Der einzige Wermutstropfen für die Zuschauer ist an diesem Abend die Nachricht vom Rücktritt Sarrazins aus dem Vorstand der Bundesbank. Als die Lesung beendet ist, stürmen viele nach vorne, um sich ein Buch signieren zu lassen. Sarrazin Personenschützer weichen ihm auch dabei nicht von der Seite.

Was die Sicherheit Sarrazins betrifft, geht man auch am nächsten Tag in Berlin auf Nummer sicher. Zahlreiche Einsatzkräfte der Polizei sind um das Veranstaltungszentrum Urania postiert. Beamte in Zivil mit einem Knopf im Ohr halten über Funk Verbindung. Dabei zeigt sich schnell, daß Sarrazin an diesem Abend kaum mit Widerspruch zu rechnen hat. Ganze zwei Gegendemonstranten haben sich vor dem Eingang der Urania eingefunden. Beide wirken angesichts der mangelnden Unterstützung und der um so zahlreicher erschienenen Fotografen und Reporter verunsichert. Fast schon schüchtern hält einer der beiden ein bedrucktes Blatt Papier in der Hand: „xenophober Schisser“ ist darauf zu lesen. Ihnen gegenüber steht grinsend Michel Emmrich (50), Kraftfahrer aus Berlin-Moabit. Gelassen streckt er den Kameras sein „Für Sarrazin! Für die Freiheit!“-Plakat entgegen. Er ist gekommen, um „Flagge zu zeigen“, wie er sagt. Weil nach seiner Ansicht die meisten zwar hinter Sarrazin stünden, aber nicht für ihn auf die Straße gingen. „Und da hab ich mir gedacht: Nach zwanzig Jahren ist es mal wieder Zeit, zu demonstrieren.“ Sarrazin habe ihn beeindruckt, sagt Emmerich. „Ich hab immer gedacht, der ist so ein kleinkarierter Krümelkacker. Der wohnt irgendwo abgehoben und hat von unseren Problemen keine Ahnung.“ Doch da habe er sich getäuscht, gesteht der großgewachsene Mann. „Sarrazin beschreibt die Wirklichkeit, wie sie ist und nicht wie die Politiker sie gerne hätten. Genau so sieht es in meinen Kiez aus.“

Die Stimmung erinnert an eine Filmpremiere

Drinnen hat sich der Humboldtsaal mittlerweile gefüllt. Von den 800 Plätzen sind nur noch wenige frei. Es wird angeregt diskutiert. Über Einwanderung, arabische Großfamilien und den Ausländeranteil an Berliner Grundschulen. Über das Geburtsverhalten von Türken und über die Meinungsfreiheit. Und darüber, was Sarrazin wohl veranlaßt hat, nun selbst um seine Entlassung als Bundesbank-Vorstand zu bitten. „Wulff dürfte sich wohl ‘ne Flasche Champagner aufgemacht haben“, sagt ein Mann zu seinem Sitznachbarn. „Dem ging doch schon der Arsch auf Grundeis.“

Die Stimmung erinnert an eine Filmpremiere, wenige Minuten bevor die Vorführung beginnt. Nur daß an diesem Abend der Hauptdarsteller persönlich anwesend sein wird. Und als der unter langanhaltendem Beifall die Bühne betritt, hat das für viele etwas Befreiendes. Mit von der Partie sind auch der Kulturjournalist Matthias Matussek (Spiegel), der Darwin-Biograph Jürgen Neffe und der iranischstämmige Regisseur Ali Samadi Ahadi. Doch schnell steht fest: Neben Sarrazin sind auch sie nur Statisten. Der frühere Berliner Finanzsenator zeigt sich nicht nur als faktengesättigter Vortragender, sondern auch als glänzender Unterhalter. Sein Buch habe eine „Abstoßreaktion bei der politischen Klasse“ ausgelöst, sagt Sarrazin. Es sei schon bemerkenswert, daß die Kanzlerin es als „nicht hilfreich“ bezeichnet habe, nun aber den dänischen Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard mit einem Preis für Meinungsfreiheit auszeichne. Als dieser 2005 seine Karikatur veröffentlicht habe, hätte das die dänische Regierung bestimmt auch nicht hilfreich gefunden. „Ich gehe also davon aus, in sechs Jahren ebenfalls einen Preis für Meinungsfreiheit von Frau Merkel zu bekommen – wenn sie dann noch Kanzlerin ist“, scherzt Sarrazin.

Doch dann erläutert er seinen Entschluß zum Rückzug aus der Bundesbank vom Tag zuvor. Er habe in den vergangenen Tagen unter einem beispiellosen Druck gestanden. Er habe zwei Wochen lang gegen achtzig Prozent der politischen Klasse gehalten und zu seinen Aussagen gestanden. „Wenn man das bewiesen hat, muß man sich fragen: Will ich wirklich weiterhin den Michael Kohlhaas machen.“

Sarrazins Gegner haben an diesem Abend kein leichtes Spiel. Als Regisseur Samadi Ahadi beklagt, er erkenne „sein Deutschland nicht wieder“ und habe das Gefühl, „vor einem Scherbenhaufen“ zu stehen, schlägt ihm aus den Besucherreihen Empörung entgegen. Er könne ja gehen, wenn es ihm nicht paßt, sind noch die freundlicheren Zurufe. Doch unbeirrt fährt Samadi Ahadi fort: Sarrazin habe mit der von ihm ausgelösten Diskussion die Arbeit der vergangenen sieben bis zehn Jahre zerstört. Seit zwei Wochen hätten sich die Blicke verändert, die ihm begegneten. „Ich mach mir nicht Sorgen um das Deutschland in hundert Jahren, ich mache mir Sorgen um das Deutschland von heute“, ruft der in Köln lebende Regisseur. Weiter kommt er nicht. Moderator Christhard Läpple muß das Publikum beruhigen. Ähnlich ergeht es dem Autor Jürgen Neffe, als er Sarrazin vorwirft, sein Buch atme „Blut und Boden“ und sei biologistisch begründet. „Billige Polemik“ ruft ihm ein Zuschauer entgegen. Ein anderer wirft ihm vor, Ideologie mit Wissenschaft zu verwechseln.

Von solch einem eindeutigen Stimmungsbild ist auch die versammelte Presse überrascht. Eine Journalistin mit Kurzhaarschnitt und Holzfällerhemd tippt aufgeregt in ihr Mobiltelefon: „Es ist zum Kotzen, was hier passiert und gesagt wird. Echt zum Kotzen!“ Doch die Frau ist mit ihrem Entsetzen nicht alleine: Etliche Journalisten müssen an diesem Abend erfahren, daß sich ihre Schilderungen einer heilen Multikulti-Welt nicht mit den Erfahrungen der Leser decken. Und so faßt ein älterer Besucher nach der Veranstaltung zusammen, was für ihn vom Fall Sarrazin bleibt: „Daß Politik und Medien wissen, daß sie uns nicht länger belügen können. Jetzt nicht mehr. Der Geist ist aus der Flasche.“

Die nächsten Lesungen: München, 29. September, 20 Uhr, Literaturhaus, Am Salvatorplatz 1; Pforzheim, 8. November, 19 Uhr, PZ-Forum, Poststraße/Ecke Luisenstraße. Weitere Termine: www.randomhouse.de

Foto: Thilo Sarrazin in der Urania: Gut vorbereitet, Sympathisant Michel Emmrich in Berlin (oben), Gegner in Potsdam: „Genau so sieht es in meinem Kiez aus“

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