© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Philosoph des Willens
Archetypus des politikverachtenden Einzelgängers: Zum 150. Todestag von Arthur Schopenhauer
Baal Müller

Die klassische deutsche Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts läßt sich grob in zwei Hauptlinien unterteilen, die beide mit Kant beginnen. Dieser hatte in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ eine „kopernikanische Wende“ von der Ontologie zur Erkenntnistheorie vollzogen und die Behauptung aufgestellt, daß das menschliche Erkenntnisvermögen unhintergehbar an die Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie an die zwölf Verstandeskategorien – darunter das Kausalitätsprinzip – gebunden sei. Um den Verstand seine Objekte aber nicht erzeugen zu lassen, mußte Kant ein transzendentales „Ding an sich“ annehmen, das dem Subjekt über diesen funktionalen Apparat hinaus unerkennbar sei.

An die subjektive Seite dieser von Kant zweigeteilten Welt knüpfte um 1800 die idealistische Philosophie an, die in den großen Systemen Hegels und Schellings gipfelte und, unter materialistischem Vorzeichen, von Marx und Engels weitergeführt wurde. Weniger prominent und eher untergründig verlief die andere Linie, die trotz der kantischen Grenzziehung die objektive Seite zu erfassen versuchte. Sie beginnt mit Arthur Schopenhauer und führt über Nietzsche in die – nicht nur philosophische – Moderne.

Als Denker wie als Persönlichkeit war der am 22. Februar 1788 in Danzig geborene Kaufmannssohn eine Gestalt des Übergangs. Traditionell – und dem von ihm polemisch bekämpften Deutschen Idealismus verwandt – ist der systematische Anspruch, die metaphysischen Grundprinzipien der Welt in einem einzigen Werk darlegen zu können: in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, dessen erster Band bereits 1819 erschien (der zweite folgte erst 1844). Dort knüpft er an den kantischen Grundgedanken von der Subjektivität des Erkenntnisvermögens an, unterlegt ihm aber eine voluntaristische Metaphysik, indem er das Ding an sich mit dem Willen als einem hinter allen Phänomenen wirkenden Daseinsdrang identifiziert. Im Gegensatz zum herkömmlichen Sprachgebrauch versteht er diesen als irrationales Prinzip, das nicht nur in introspektiver Selbstanalyse als Lebens- und Sexualtrieb erfahrbar sei, sondern die gesamte Natur durchwalte und sich sogar im unbelebten Kausalgeschehen manifestiere.

Trotz des universalen Charakters des sich in seinen Erscheinungen auf ewig selbst bekämpfenden Willens, der jede individuelle Willensregung determiniere, wie Schopenhauer in seiner 1839 von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften ausgezeichneten Preisschrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens“ darlegte, gibt es doch zwei Hintertüren, durch die der Mensch Erlösung vom Leiden der Welt erlangen könne: Die eine liegt in der Moral, die andere in der Ästhetik. In der Empathie mit anderen leidenden Kreaturen überschreite der Mensch seine scheinhafte Vereinzelung und erkenne denselben Lebenswillen – und letztlich sich selbst – in allen anderen Wesen, was Schopenhauer in dem Satz „tat twam asi“ („dies bist du“) der altindischen Upanishaden zum Ausdruck gebracht sieht. In seiner Mitleidsethik, die er in der Abhandlung „Über das Fundament der Moral“ entfaltete, wendet er sich radikal gegen den Kategorischen Imperativ seines Lehrmeisters Kant, dessen Appell, stets die Folgen des eigenen Handelns für die Allgemeinheit zu bedenken, er als Verhaftung an ein obrigkeitshöriges Denken mißversteht – der Anti-Etatist konnte, diesem Denken selbst verhaftet, Gesetzlichkeit lediglich als Zwang, nicht aber als Formulierung von Allgemeingültigkeit auffassen.

Das andere Schlupfloch ins – freilich gottlose – Paradies ist die „interesselose Anschauung“ der ästhetischen Kontemplation: Auch im Genuß eines Kunstwerkes, insbesondere der Musik, könne der Mensch das principium individuationis überwinden und sich mit dem kosmischen Seinsgrund vereinen.

Bedeutender Wegbereiter der Psychoanalyse Freuds

Man wird Schopenhauers Bedeutung heute weniger in seinen philosophischen Grundgedanken als vielmehr in seinen Nachwirkungen erkennen. Wurde sein Hauptwerk zu Lebzeiten kaum beachtet, so setzte eine intensive Schopenhauer-Rezeption erst im letzten Drittel seines Jahrhunderts ein. Der philosophische Exponent des Biedermeier, der in seiner Jugend noch mit Goethe bekannt war und dessen Mutter, die Romanautorin Johanna Schopenhauer, in Weimar einen literarischen Salon unterhielt, erscheint aufgrund seiner posthumen Wirkungsgeschichte beinahe als Zeitgenosse Richard Wagners, dessen „Ring des Nibelungen“ stark vom Schopenhauerschen Weltbild geprägt ist, und Friedrich Nietzsches, der in seiner „Unzeitgemäßen Betrachtung“ über „Schopenhauer als Erzieher“ dessen Wahrheitswillen und heroischen Pessimismus preist. Von dort führt eine Linie zur konservativ-revolutionären Zeitkritik des zwanzigsten Jahrhunderts; und als Archetypus des politikverachtenden musischen Einzelgängers und Privatgelehrten läßt sich die mürrische Gestalt des Philosophen in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann erkennen, der sich auch in seinen Erzählungen, etwa der Novelle „Tobias Mindernickel“, mit Schopenhauers Ethik auseinandergesetzt hat.

Wurde Schopenhauers Werk von berühmten Schriftstellern wie Hermann Hesse, Samuel Beckett und Thomas Bernhard intensiv rezipiert, so waren es in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts eher akademische Außenseiter wie Georg Simmel oder Max Scheler, die an seine Gedankengänge anknüpften; von der Universitätsphilosophie wurde er meist nur, und nicht ganz zu Unrecht, als origineller Kantianer oder Vorläufer Nietzsches angesehen. Neben letzterem war er allerdings der wohl bedeutendste Wegbereiter der Psychoanalyse; Freuds Reduktion des Gefühlslebens auf den Sexualtrieb findet sich bei ihm in aller Deutlichkeit antizipiert, und in seiner Auffassung vom Willen als irrationaler, das Einzelbewußtsein übersteigender Macht sind wesentliche Züge des kollektiven Unbewußten C. G. Jungs vorweggenommen.

Eine weitere geistesgeschichtliche Leistung Schopenhauers liegt in seiner Vermittlung indischer Weisheitslehren, die ihm erstmals 1813 während seiner Weimarer Zeit von dem Orientalisten und Herderschüler Friedrich Majer nahegebracht wurden: Mit Schopenhauer, der sich selbst als ersten europäischen Buddhisten ansah, begann die Geschichte eines – dem ebenfalls quietistischen Antikebegriff des Klassizismus mit seiner „edlen Einfalt und stillen Größe“ vergleichbaren – schöpferischen Mißverstehens, dessen Folgen wie die Fehlinterpretation des Buddhismus als Nihilismus, der angeblich ein Sich-Enthalten von allen Handlungen und als höchstes Ziel ein Aufgehen im „Nichts“ lehre, über die von der Untergangsstimmung nach dem Ersten Weltkrieg grundierte Buddhismusmode hinaus bis heute fortwirken.

Reaktionärer Kleinbürger und Feind des Spießertums

So zeitgebunden Schopenhauer in seinem philosophischen Systemwillen erscheint – sowohl in seiner relativen Unbekümmertheit um empirische Forschung als auch in seinem Anspruch, eine letztendlich nicht mehr widerlegbare Gesamtdeutung der Welt vorlegen zu können –, so wesentlich sind die vielfältigen Anregungen, die von ihm auf die Moderne ausgingen, und so modern erscheint sein Habitus als außeruniversitärer Künstlerphilosoph und Literat; nicht zuletzt auch durch sein gespaltenes Verhältnis zur Bürgerlichkeit: einerseits reaktionärer Kleinbürger und Verächter des Vormärz, andererseits selbst halber Bohemien und Feind des Spießertums, das für den mißmutig-triebhaften Frauenverächter vor allem im ehelichen Leben bestand. Zum emotionalen Ausgleich hielt sich der bekennende Junggeselle zeitlebens einen Pudel: Sobald einer gestorben war, schaffte er sich einen neuen an und nannte ihn, wie die vorangegangenen, „Atman“, nach dem Sanskritwort für „Lebenshauch“ oder „individuelle Seele“, da – wie er glaubte – in jedem Pudel dasselbe Lebensprinzip, „des Pudels Kern“, wirke.

Am 21. September 1860 verstarb Arthur Schopenhauer als wenig bekannter, kauziger Sonderling in Frankfurt am Main, wo er, nach Lehr- und Wanderjahren, seine zweite Lebenshälfte verbracht hatte. Einige Jahre später nannte ihn Leo Tolstoi „den genialsten aller Menschen“.

 

Schopenhauer–Kongreß

Schopenhauer – Was die Welt bewegt“ lautet der Titel eines Internationalen Kongresses, zu dem die Schopenhauer-Gesellschaft und die Schopenhauer-Forschungsstelle an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz vom 21. bis 24. September nach Frankfurt am Main einladen. In verschiedenen Sektionen, darunter Ethik, Asiatische Philosophie, Metaphysik, Psychologie, Ästhetik, Naturwissenschaften, Hermeneutik und Wirkungsgeschichte diskutieren Wissenschaftler aus aller Welt den Stand der Schopenhauer-Rezeption. Internet: www.schopenhauer.de

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