© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

„Die Ilias des deutschen Soldaten“
In Stahlgewittern: Ein beachtenswerter Sammelband über die Osteuropa-Rezeption des Jahrhundertdichters Ernst Jünger
Malte Schwartz

Sammelbände sind wie Wundertüten. Vor unangenehmen Überraschungen ist also nicht gefeit, wer sie öffnet. Die von Natalia Żarska, Gerald Diesener und dem Breslauer Germanisten Wojciech Kunicki herausgegebene Aufsatzsammlung „Ernst Jünger – eine Bilanz“ macht da keine Ausnahme.

Es beginnt schon mit dem Titel, der falsche Erwartungen weckt. Obwohl die tropische Fülle der Veröffentlichungen über den „Weisen von Wilflingen“ allein in diesem noch frischen Jahrhundert zu einer sondierenden Forschungsbilanz geradezu nötigt, fühlt sich keiner der Beiträger dieses Bandes aufgerufen, das im Titel gegebene Versprechen einzulösen und den Pfadfinder im Urwald der Jünger-Deutungen zu spielen. Was sich stattdessen darbietet, in nicht weniger als 38 Aufsätzen, zweispaltig gedruckt, in Halbleinen gebunden und mit einem schönen, mit dem Konterfei des Meisters und einer prachtvoll leuchtenden Cleptes juengeri (Goldwespe) geschmückten Einband versehen, läßt den Forschungs-dschungel eher weiter wuchern.

Bereits ein Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät, daß orientierende Handreichungen zum Werk oder zum Sekundärwerk nicht intendiert waren. Neben den drei großen Themenblöcken „Strukturen und Modelle“, „Mimesis und Substanz“ und „Rezeption und Geschichte“ bieten die einleitenden „Fundamente“ kümmerliche zwei Studien an. In denen beschäftigt sich Hans-Harald Müller etwas gequält mit Jüngers Frühwerk „im Konzept der literarischen Moderne“, verrät aber nicht, was eigentlich gegen Hermann Lübbes Verdikt einzuwenden sei, „Der Arbeiter“ (1932) lasse sich wie Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ auf „unsere Gegenwartslage kaum noch beziehen“, zähle also zur Vormoderne, ja sei ein Text von „paläontologischer Fremdheitsanmutung“.

Noch enigmatischer gibt sich Harro Segeberg, der Jünger wieder einmal in die „Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ hineinstellt, dabei kühne Kameraschwenks auf die „medialen Mobilmachungen“ in Hollywood und Babelsberg riskiert, ohne daß deutlich wird, was uns der Autor damit zu Jüngers „Medientheorie“ sagen will. „Fundamente“ legen Müller und Segeberg jedenfalls nicht.

Die findet der Leser, freilich zusammengepreßt auf acht Seiten, am Schluß des Bandes, bei dem Jünger-Biographen Helmuth Kiesel, der über „Tendenzen der publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen“ mit Jünger und seinem Œuvre informiert. Im Telegrammstil hakt der Heidelberger Germanist ab, was die Jüngerologie endgültig hinter sich gelassen hat: den „Bellizismus“, den „Faschismus“, den „Antisemitismus“ und ähnlich politizistische Schablonisierungen, die, sieht man einmal vom Zeit-Feuilleton ab, seit langem nur noch in der Publizistik des linken Narrensaums zu finden sind.

Mit dem Nimbus des „umstrittenen“ Autors büßte Jünger aber, ganz im Sinne Lübbes, auch gehörig an „Aktualität“ ein. Übrig könnte eine antiquarische Rezeptionsvariante bleiben, die Kiesel zu präferieren scheint: Man sollte Jüngers Werk für „die historische Erschließung seiner Zeit“ nutzen. Unter dieser Prämisse eröffne sich ein unabsehbares Feld für „weitere Revisionen“, „editorische Arbeiten“ und vielleicht auch endlich für ein deutschsprachiges „Jünger-Periodicum“, als Auffangbecken für die Erzeugnisse der forcierten Historisierung und Philologisierung.

Bedingt durch die Herausgeberschaft Kunickis, dem Interpreten, Übersetzer und Bahnbrecher Jüngers in Polen, stammt ein Viertel der Beiträger aus den Reihen der osteuropäischen, polnischen, rumänischen, tschechischen und russischen Germanistik. Unter ihnen verdienen weniger die hermeneutischen Versuche, in denen sich die Interpreten mitunter zu stark an ausgeleierte deutsche Schablonen à la „Jünger und die Moderne, die klassische Avantgarde, die konservative Revolution“ usw. halten, sondern die Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte „im Osten“, vor und nach 1989 die größere Aufmerksamkeit. In Rumänien etwa, wo Cioran und Eliade als „klandestine Gurus“ das geistige Gerüst der modernen Intellektualität des Landes „esoterisch“ prägten, avancierte ein so schwacher, aber mit seinen mythisch-esoterischen Elementen so reichlich durchsetzter Roman wie „Heliopolis“ zum „Leitstern im Dunkel des Betonkommunismus“ und zählte für viele sektiererisch-oppositionelle Grüppchen zur „Kultur des Überlebens“ in Ceausescus Diktatur.

Anders in Polen. Hier sollte man erwarten, daß sich die „Volksrepublik“ ähnlich gegen den „Faschisten und Militaristen“ Jünger abgeschottet hatte wie die DDR. Doch wie Krzysztof  Polechonski belegt, gab es bereits zu Zeiten von Piłsudskis Militärdiktatur so lebhafte wie positive Reaktionen vor allem in polnischen Armeekreisen. 1935 erschien eine erste Übersetzung von „In Stahlgewittern“, die „Ilias des deutschen Soldaten“ (Roman Umiastowski, 1934), die 1938 eine zweite Auflage erlebte. Ein gewisser Marceli Ranicki reihte sich dann 1954 in den Chor sozialistischer Zensoren ein, die bemüht waren, diesen für Jünger günstigen Resonanzboden zu versiegeln. Marcel Reich-Ranicki, wie er sich später nannte, sprachlich firm sich aus dem Wörterbuch des kommunistischen Unmenschen bedienend, denunzierte Jünger als „neonazistischen“ Schriftsteller, der wie Dwinger, Johst oder Ernst von Salomon „das Gift des Chauvinismus und des Hasses“ verspritze und an der „Remilitarisierung der (westdeutschen) Gesellschaft“ mitwirke.

Ungeachtet dessen setzte sich zur selben Zeit, als von Lippendienstlern wie Ranicki die „bösartigsten Pamphlete“ gegen Jünger entstanden, die „wohlwollende“, von der Emigration gespeiste Jünger-Rezeption in Polen fort, immer wieder konterkariert von linientreuen Literaturkritikern und Germanisten. Doch schon in den 1960er Jahren durfte der Rechtstheoretiker Franciszek Ryszka der Jüngerschen Kriegsprosa einen „wesentlich höheren Rang“ einräumen als Remarques „Im Westen nichts Neues“. Die „politischen Gärungsprozesse“ der 1980er bereiteten dann den fast schon triumphalen Durchbruch Jüngers auf dem polnischen Buchmarkt nach dem Ende des „Ostblocks“ vor, wo der Pour-le-Mérite-Träger inzwischen unumstritten als „Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts“ gilt.

Beherrscht Polechonski seinen Stoff souverän, so kann man das von Jörg Ulrich Fechners Aufsatz über die französische Rezeption der 1930 erstmals übersetzten „Stahlgewitter“ nicht gerade sagen. Vielmehr ist hier leider ein Tiefpunkt in diesem sonst so informativen Themenblock „Rezeption und Geschichte“ erreicht, wenn man Fechner immer wieder klagen hört: „ist mir nicht bekannt“, „stand mir nicht zur Verfügung“. Dabei geht es um Verlagsarchivalien, deren Schicksal man mit einer elektronischen Anfrage hätte klären, Bücher, wie die monumentale Weltkriegsgeschichte des Reichsarchivs (1925 ff., keineswegs eine „Spezialuntersuchung“), die man mit einer Fernleihe sich jederzeit hätte beschaffen können.

Natalia Zarska, Gerald Diesener, Wojciech Kunicki (Hrsg.): Ernst Jünger – eine Bilanz. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2010, gebunden, 536 Seiten, Abbildungen, 99 Euro

Foto: Ernst Jünger: Als „Faschist und Militarist“ geriet er in Polen ins Fadenkreuz eines gewissen Marceli Reich

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