© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Dem Appeasement folgte das allgemeine Säbelrasseln
Erika Steinbachs „umstrittene“ Aussage zur Mobilisierung der polnischen Armee im Frühjahr 1939 und die politischen Hintergründe am Vorabend des Krieges
Stefan Scheil

Internationale Politik ist ein Geschäft, und meist kein besonders sauberes. In vielen Debatten über die Vorgeschichte des deutsch-polnischen Krieges von 1939 wird dieser Aspekt oft vergessen. Wer 1939 mit wem gegen wen kämpfte, das war auch eine Frage des Preises.

„Innerhalb von 24 Stunden kann die polnische Politik einen radikalen Schwenk an die Seite Englands und Frankreichs vollziehen.“ Dies meldete Polens Außenminister Józef Beck Anfang September 1938 an Marschall Edward Rydz-Śmigly, der nach dem Tod Józef Piłsudskis die neue Galionsfigur des polnischen Regimes geworden war. Dieser Meldung waren umfangreiche Sondierungen in mehrere Richtungen vorausgegangen. Beck hatte schon im Sommer 1938 in Danzig mit dem Ersten Lord der Admiralität, Duff Cooper, als dortigem Repräsentanten der englischen Regierung gesprochen, der einen scharfen antideutschen Kurs befürwortete. Unmittelbar nach diesen Gesprächen ließ Beck im Gespräch mit Carl J. Burckhardt durchblicken, auf den Erwerb von Danzig, Ostpreußen, Schlesien und Pommern hinzuarbeiten.

Noch waren Duff Cooper und sein innenpolitischer Verbündeter Winston Churchill allerdings nicht die maßgebende Partei in London. Daher war Vorsicht geboten und deshalb hatte Józef Beck innerpolnisch die Parole ausgegeben: Im Frieden mit Deutschland, im Krieg gegen Deutschland. Im Klartext der damals gerade anstehenden Tschechoslowakeikrise um das Schicksal der Sudetendeutschen hieß dies zweierlei. Sollte die Tschechoslowakei tatsächlich ohne Kriegshandlung von den Großmächten gemeinsam oder von Deutschland im Alleingang zerschlagen werden, dann sollte Polen nutznießend alle Gebiete bekommen, die sich als ethnisch polnisch deklarieren ließen. Sollte es aber über der Tschechenkrise zum Krieg kommen, dann durfte Polen in keinem Fall an der Seite Deutschlands zu finden sein. Da der Krieg ausblieb, brachte dieses von Beck eingefädelte Verhaltensmuster Polen im Jahr 1938 das bis dahin tschechische Olsa-Gebiet, später noch die lange erwünschte gemeinsame Grenze mit Ungarn ein. Das wäre eine Episode der Geschichte, hätte es nicht eine Art Vorbildfunktion für die Vorgänge in der zweiten Hälfte des März 1939 gebildet.

Immer noch liefen zu dieser Zeit deutsch-polnische Verhandlungen, die im Herbst 1938 begonnen wurden. In Berlin machte man sich Hoffnungen, Polen als weiteren Verbündeten ins Lager der Achse ziehen zu können, wollte offene Fragen bereinigen und notfalls in den „sauren Apfel beißen“, wie Goebbels notierte: den sauren Apfel der Anerkennung der bestehenden deutsch-polnischen Grenze, in den alle Weimarer Regierungen nicht gebissen hatten.

Beck seinerseits lagen seit der Jahreswende 1938/39 Informationen aus Washington vor, nach denen die US-Regierung ihre gesamten politischen Mittel einsetzen wollte, um England und Frankreich von weiteren Zugeständnissen an Hitler abzubringen. Man hatte dies die Warschauer Regierung in deutlichen Worten wissen lassen. Die Deutschen hatten zudem außer der Garantie des Bestehenden kaum etwas Neues zu geben, sie forderten mit Danzig sogar etwas, zwar kein polnisches Gebiet, aber doch ein Symbol für Polens Zugang zum Meer. England und Frankreich waren zu Angeboten anderer Art imstande.

Es waren zwei Ereignisse, die den im Vorjahr angedachten polnischen Schwenk im März 1939 dann möglich machen sollten. Der deutsche Einmarsch in Prag und der fortgesetzte politische Druck auf Premier Neville Chamberlain veranlaßten London schließlich, Polen einen explosiven wechselseitigen „Garantie“-Pakt anzubieten. Beck nahm an, ließ aber als Polens Preis die Stichworte „Kolonien, Juden und Danzig“ nach London telegraphieren. Dann reiste er ab, begleitet von einer umfassenden Mobilmachung der polnischen Armee. 750.000 Mann seien es, ermittelte die englische Botschaft in Warschau. Das reiche sogar für eine Offensivaktion gegen Deutschland, meinten einige Militärattachés vor Ort. In jedem Fall war es eine Demonstration der Stärke, die den englischen Botschafter zur befriedigten Bemerkung brachte, die Polen könnten mit den Deutschen gut umgehen, hätten schon öfter „Blätter aus dem deutschen Buch gerissen“ und könnten auch diesmal erfolgreich sein.

In der Tat konnte Beck in London offenbar weder die Zusage für den Erwerb ehemals deutscher Kolonien noch für die von ihm betriebene Auswanderung aller Juden aus Polen erreichen. Der in London schließlich gezahlte Preis für Polens Waffengang gegen Deutschland bestand statt dessen aus weiteren deutschen Buchseiten, nach Aussage des im Exil lebenden früheren Reichskanzlers Heinrich Brüning, der das entsprechende Abkommen gesehen haben will, aus Ostpreußen und dem Rest des 1922 geteilten Oberschlesien. Für die Ära des ausgehenden Imperialismus wäre das nicht ungewöhnlich, sondern völlig selbstverständlich.

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