© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Bildung per Chipkarte
Fahrschein in den Sozialismus
von Jürgen Liminski

Hochkonjunktur für Ursula von der Leyen: Beim Rententhema äußert sie sich ebenso wie bei Familienthemen, Sozialfragen, Bildungsthemen oder Arbeitsmarktdaten. Kein Tag ohne Mikrofone und Kameras, schließlich hängt alles mit allem zusammen. Und vielleicht gelingt es ihr, die Union mit einem neuen Federschmuck aus der Talsohle zu führen.

Sicher, es sind wieder fremde Federn, mit denen sie mediale Präsenz erzielt.Aber warum sollte sich die Arbeitsministerin nicht weiter mit fremden Federn schmücken? Sie hat das schon als Familienministerin getan – Elterngeld und Krippenausbau waren genuine SPD-Konzepte, die sie mit Verve verkündete und umsetzte. Die Frage ist nur, ob die Feder auch auf den neuen Hut paßt. Und das ist bei der von ihr losgetretenen Debatte um die Bildungsgutscheine oder Familienchips alles andere als sicher.

Sie führt die Debatte ohne Rücksicht auf Kompetenzen und Kosten. Nach dem Treffen der Kommunalverbände sowie der Bildungs-, Sozial- und Familienminister in Berlin Mitte August fiel ihr das auf die Füße. Denn da hatte jeder seinen eigenen Hut auf.

Der Familienministerin platzte schließlich der Kragen. In einem Interview mit Bild nannte sie einige Probleme mit der Bildungschipkarte, die Ursula von der Leyen schon mal für Mitte 2011 als einführbar vorstellte. Es gebe Probleme mit dem Datenschutz, meinte Kristina Schröder, Bewegungsprofile von Kindern und Jugendlichen könnten erstellt werden, ihr Freizeitverhalten studiert und die Verwendung der Karte als Tauschgegenstand mißbraucht werden. Außerdem würde der Erfolg kommunaler Modelle gefährdet.

Mit diesen wenigen Sätzen stellte sie von der Leyens Bildungschipkarte als das dar, was sie auch ist: ein unausgegorener, nicht zu Ende gedachter Versuch mit dem Zweck, in den Medien zu glänzen – und so nebenbei von der Aufgabe einer Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder abzulenken.

Daß viele Medien bar jeder Ahnung von Erziehung und Familie der blendenden Arbeits- und Sozialministerin mittlerweile blind folgen, ist eine Sache. Eine andere ist die Verwirklichung der Blendwerke. Das hat sich schon beim Elterngeld gezeigt, wo nachweislich von unten nach oben verteilt wird. Ähnlich verhielt es sich mit ihrer Krippenoffensive, wo mit viel Geld Leerplätze geschaffen werden.

Hierin liegt zugleich der Unterschied zwischen beiden Ministerinnen: Ursula von der Leyen ist nah an den Medien, Kristina Schröder nah an der Wirklichkeit. Und im Zweifelsfall hat die Hannoveranerin eher die Unterstützung der Kanzlerin als die junge Frau aus Hessen, auch wenn Angela Merkel sich auf dem Landesparteitag der CDU in Mecklenburg-Vorpommern am 21. November 2009 noch gegen das Gutscheinmodell gewandt hatte.

Ihre etwas „verquaste“ Begründung lautete: „Wenn wir diese Diskussion anfangen, daß man Familien nicht mehr zutrauen kann, (...) damit etwas Vernünftiges zu machen – dann tun wir etwas, was mit meinem Menschenbild zumindest nichts zu tun hat.“ Eine Beschränkung der familiären Eigenverantwortung dürfe nicht zum „Standardfall der Republik“ werden.

Genau das strebt Ursula von der Leyen aber an. Zwar wird der Streitfall zwischen den beiden Ministerinnen heruntergespielt, dahinter verbergen sich aber zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Politik. Ursula von der Leyen ist staatszentriert und elternkritisch, Kristina Schröder eher staatskritisch und elternfreundlich. Und damit auch familienfreundlicher als ihre Vorgängerin.

Die Bildungskarte entmündigt Eltern und legt den Behörden weitere Erziehungsvollmachten in die Hand. Sie entspricht dem Denken einiger Berater von der Leyens, die bekanntermaßen aus der sozialistischen Ecke kommen und mit ihr auch ins Arbeitsministerium gegangen sind.

Kristina Schröders Berater halten es dagegen mehr mit einer bürgerlichen Gesellschaft, in der man noch an die Freiheitsfähigkeit glaubt. Ob die Chipkarte nun kommt oder nicht, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Es hängt letztlich davon ab, wie die Länder und Kommunen dazu stehen. Im Moment überwiegt eher die Skepsis gegenüber den Plänen der medialen Künstlerin im Arbeits- und Sozialministerium.

Die Bildungschipkarte entmündigt Eltern und legt den Behörden weitere Erziehungsvollmachten in die Hand. Hinter der Idee, Bildung per Chip zu verordnen, stecken grundsätzliches Mißtrauen gegenüber der Familie und die Überschätzung des Staates.

Diese reagierte prompt und pikiert. Niemand käme auf die „abwegige Idee, diese Karte zu verteufeln mit dem Argument, man könne damit herausfinden, in welchem Verein ein Kind Fußball spielt oder welches seine Lieblingsbibliothek ist“. Das ist gepflegter Zickenkrieg. Es geht nicht um Bibliotheken oder Sportvereine. Es geht um Freiheit und Vertrauen oder um Kontrolle und die damit verbundenen repressiven Möglichkeiten. Irgendwann wird man sich im Sozialministerium aber auch den Anforderungen des Richterspruchs aus Karlsruhe widmen müssen, der eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze für Kinder bis zum Jahresende anmahnte. Vor dem Bundesverfassungsgericht werden oberflächliche Argumentationen keinen Bestand haben.

Betrachtet man die Idee der Bildungschipkarte genauer, dann sind es fremde Federn, mit denen sich Ursula von der Leyen schmücken will. Bildungsgutscheine hatten einerseits die Liberalen in ihrem Wahlprogramm vorgeschlagen. Andererseits sind die Familienkarten kommunalen Ursprungs; in Stuttgart werden sie seit rund zehn Jahren mit mäßigem Erfolg erprobt. Nur knapp ein Fünftel der Ausgaben kommt Bildungszielen (Nachhilfe, Klassenfahrten) zugute, zwei Drittel dagegen fließen in Besuche von Freibad und Zoo.

Man kennt den Chip oder auch die Karte in anderen Ländern, in Nieder­österreich etwa seit Jahren. Während man dort aber nicht um Kompetenzen zwischen Land, Kommune und Bund streitet, liegt die Sachlage in Deutschland anders. Zu fragen wäre etwa: Wer zahlt wofür die Zeche? Die Kosten für die Infrastruktur übernehme der Bund, heißt es. Gehören dazu auch die lokalen Angebote für Bildung oder nur die Chipkartenlesegeräte?

Eine weitere Frage ist, wie man Bildungsgutscheine für alle Familien mit den Hartz-IV-Ansprüchen verrechnen soll. Nach den Vorstellungen der Sozialministerin sollen die Kosten für Hartz-IV-Familien vom Bund übernommen werden, die anderen Familien sollen ihre Gutscheine von der Kommune geschenkt bekommen. Auch da würde es Ärger zwischen den Kommunen und den Leuten mit den Großmannsgesten in Berlin geben. Denn die meisten Kommunen haben keine Familien- oder Bildungskarten in ihren Förderprogrammen.

Und ob, wie Ursula von der Leyen vorschlägt, die Bildungskarte ausreichend von Stiftungen und Firmen mit Spenden unterstützt würde, ist obendrein ungewiß. Die befreundete Bertelsmann-Stiftung könnte wohl mitziehen, allein kann aber auch sie kein flächendeckendes Chipkartensystem aufbauen. Ein einzelnes Gerät, um über die Karte abrechnen zu können, kostet schon 250 Euro – eine Milliardeninvestition, von der vor allem die Herstellerfirma profitieren würde. In vielen Dörfern und Kleinstädten auf dem Land würden sie kaum gebraucht.

Der größte Fettnapf aber steht im politischen Feld. Von der Leyen maßt sich Kompetenzen an, die eigentlich ins Familienministerium gehören. Daher hätte sich Kristina Schröder schon früher in diese Debatte einschalten müssen, zumal sie sich in ihr Ressort eingearbeitet und durchaus einiges zu sagen hat.

Zuletzt hatte Schröder vorgeschlagen, Familien bei der Pflege zu unterstützen, denn „die allermeisten Menschen möchten auch im Alter und bei Pflegebedürftigkeit zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung leben“. Diesen Wunsch nehme sie sehr ernst. Auch ihr neuer Vorstoß für ein soziales Dienstjahr steht in diesem Zusammenhang. Sie sieht den freiwilligen sozialen Dienst als Option für Rentner und Pensionäre.

Ihre Entmündigungspläne treibt Ursula von der Leyen nicht nur mit Pauschalurteilen, sondern mit der Vuvuzela-Taktik voran: Sie bläst so lange ins gleiche Horn, bis die Deutschen ihrer Meinung sind. Am Ende fügen sie sich freiwillig in die Erziehungsdiktatur.

Während Schröder die ältere Generation in den Blick nimmt, denkt Ursula von der Leyen vor allem an die jüngere und ihre Funktion für den Arbeitsmarkt. Und sie denkt vielleicht auch schon daran, daß die Bildungskarte eine Bresche schlagen wird auf dem Weg zur Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule, so daß die Frauen ganztägig ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können. Ganz nach dem eigenen Vorbild und dem Postulat von Marx und Engels: „Erziehung und Fabrikation zusammen!“

Diese Sichtweise ist nicht unbedingt die der amtierenden Familienministerin. Kristina Schröder wird künftig wohl öfter ihrer Vorgängerin widersprechen, schon damit sie nicht als Anhängsel des Sozialministeriums betrachtet wird. Dabei ist es schwierig, einer „politischen „Vuvuzela“ Paroli zu bieten, insbesondere wenn sich etliche Journalisten als Verstärker instrumentalisieren lassen.

Kristina Schröder hat gute Verbündete. Zum Beispiel die CSU. Die hält eisern am Betreuungsgeld fest, das Frau von der Leyen mit den Bildungs- und Familiengutscheinen überflüssig machen will.  Ärger ist vorprogrammiert. Denn die Bayern tragen auch gern Federn am Hut, vor allem wenn es die eigenen sind. Und die lassen sie sich nicht so ohne weiteres herunterreißen.

Staatsgläubigkeit und Mißtrauen gegenüber den Eltern im Umfeld der Arbeits- und Sozialministerin widersprechen den Ergebnissen der Wissenschaft offenkundig. Für Hirnforscher und Entwicklungspsychologen steht längst fest, daß Bindung und Emotionen Voraussetzungen für gelingende Bildung sind. Und das können der „Vater Staat“ und die „Mutter der Nation“ nicht per Chip regeln.

Die bayerische Familien- und Sozialministerin Christine Haderthauer formuliert es so: „Bildung gelingt nicht ohne Eltern. Die Voraussetzungen für Bildungserfolg sind Bindung und Erziehung. Hierbei sind Eltern nicht zu ersetzen! Ihre Bedeutung, ihre persönliche Verantwortung muß bewußt gemacht und eingefordert werden, anstatt Eltern zu Gutscheinempfängern zu degradieren und sie damit wie unmündige Störenfriede im Leben und Lernen ihres Kindes zu behandeln.“

Bildung ohne Eltern endet in staatlichen Erziehungsdiktaturen. Nicht ohne Grund gehört Chile zu den Ländern, die mit Gutscheinen experimentiert haben. Der Diktator Augusto Pinochet führte im Zuge der Bildungsreform Anfang der 1980er Jahre Bildungsgutscheine ein.

Er setzte damit erstmals im größeren Stil das Gutscheinkonzept der „Chicago School“ um, das jene Ökonomen um den Nobelpreisträger Milton Friedman bereits in den 1950er Jahren entwickelt hatten. Wissenschaftliche Untersuchungen dieser Reform zeigen, wie Stefan Fuchs vom Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie ausführt, daß für die Qualität von Bildung weniger die Organisationsformen und modernen Steuerungsinstrumente entscheidend seien.

Vielmehr kommt es auf pädagogische Konzepte und die Einstellungen der Bezugspersonen an. Für die  frühkindliche Bildung und Erziehung gilt das in noch stärkerem Maße als für das Schulwesen. Die Eltern und an zweiter Stelle die Erzieher und Lehrer sind die entscheidenden Schlüsselfiguren.

Deutschland läuft Gefahr, die Pinochet-Erfahrungen zu wiederholen. Die Entmündigungspläne des Sozialministeriums werden nicht nur mit Pauschalurteilen, sondern auch mit der „Vuvuzela-Taktik“ vorangetrieben. Man muß nur lange genug in das gleiche Horn blasen, damit die Deutschen etwas annehmen.

Nach Allensbacher Umfragen sind 71 Prozent der Deutschen mittlerweile dafür, daß Hartz-IV-Familien zusätzlich eher Sachleistungen als Geld bekommen. Bei der Interpretation der Zustimmung kommt es freilich darauf an, welche zusätzlichen Sachleistungen vorgeschlagen werden. Kostenlose Mittagessen oder die Mitgliedschaft im Sportverein – dagegen haben auch Hartz-IV-Familien nicht viel einzuwenden.

Die Alternative heißt nicht Bier oder Bildung, sondern Wahlfreiheit oder Entmündigung. Insofern ist die Bildungschipkarte ein deutliches Wetterleuchten für die Renaissance des vormundschaftlichen Staates.

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, Diplom-Politologe, ist Publizist, Radio-Moderator und war Ressortleiter für Außenpolitik beim Rheinischen Merkur und bei der Welt. Derzeit ist er Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Gefahren für den Sozialstaat („Die Deiche weichen auf“, JF 27/10).

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