© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Gabriel läßt die Muskeln spielen
Opposition: Vor ihrem am Wochenende in Berlin stattfi ndenden Parteitag fühlen sich die Sozialdemokraten so stark wie lange nicht mehr
Paul Rosen

Gut ein Jahr nach der für sie desaströs ausgegangenen Bundestagswahl sieht sich die SPD wieder im Aufwind. Nordrhein-Westfalen, ihr altes Herzland, wurde von Hannelore Kraft zurückerobert. In Umfragen hat sie mit rund 30 Prozent zur Union aufgeschlossen. Im kommenden März könnte die Regierung in Baden-Württemberg von einer rot-grünen Koalition übernommen werden. Doch das rote Leuchten könnte sich als Scheinblüte herausstellen.

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint für die vom früheren – und dort abgewählten – niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel geführte Partei alles zu stimmen. Gemeinsam mit Grünen und Linkspartei führt die SPD die Anti-Atombewegung an, die die Keller des Vergessens verlassen hat. Der debattenstarke und polarisierende Gabriel setzt Akzente. In der Haushaltsdebatte schmähte er Angela Merkel wegen ihres Festhaltens an der Atomenergie als „Kanzlerin der Konzerne“ und weckte damit Erinnerungen an den Nachkriegsparteivorsitzenden Kurt Schumacher, dessen Vorwurf gegen Konrad Adenauer, „Kanzler der Alliierten“ zu sein, und für heftige Proteste sorgte und Eingang in die Geschichtsbücher fand.

Auf ihrem an diesem Wochenende in Berlin stattfindenden Parteitag will die SPD über ein „faires und gerechtes Deutschland“ debattieren. In Wirklichkeit dürfte es sich um eine politische Heerschau halten, zu der CDU, CSU und FDP derzeit nicht zumute ist. Vergessen scheint der Gegensatz zwischen Gabriel und seiner jungen Generalsekretärin Andrea Nahles vom linken Flügel, die zudem bald wegen bevorstehender Mutterfreuden eine politische Pause einlegen dürfte.

Gabriel hat die Fraktionsführung, die der gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier innehat, nicht angetastet. Im Gegensatz zu Merkel, die nach der verlorenen Bundestagswahl 2002 als erstes den Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz wegbiß, um Alleinherrscherin der Union zu werden, scheint Gabriel mehr auf Mannschaft statt Solotänzerei zu setzen.

Fraktion verharrt in der Anonymität

Nur scheint hinter dem Stürmer Gabriel nicht mehr viel zu kommen. Die SPD sei eine „Partei ohne Gesichter“ spottete der Spiegel und merkte voller Häme über Gabriel an: „Seit bald zehn Monaten ist er der oberste Sozialdemokrat, doch man konnte zuweilen den Eindruck bekommen, er sei auch der einzige.“

Das liegt vor allem am Zustand der Bundestagsfraktion. Es gibt nur noch 146 Bundestagsabgeordnete der SPD. Zum Vergleich: Die FDP verfügt über 93 Abgeordnete. 76 Abgeordnetensitze verlor die SPD 2009 im Vergleich zum Ergebnis von 2005. Diesen Blutzoll hat sie bis heute nicht verkraftet. Ihre parlamentarischen Initiativen sind selten. Grüne und selbst die Fraktion der Linkspartei gelten als fleißiger. SPD-Fachpolitiker schaffen es nicht, aus dem Dunkel der Anonymität herauszutreten. Viele Grüne sind deutschlandweit bekannter als ihre SPD-Kollegen.

Gabriel, der einen starken Hang zum Populismus hat, drehte seine Partei programmatisch schnell um. Die „Rente ab 67“, von Franz Müntefering schweren Herzens wegen des drohenden Kollapses der Rentenversicherung eingeführt, opferte Volkstribun Gabriel ohne mit der Wimper zu zucken. Aber nur weil der SPD-Parteivorstand ein anderes Rentenalter beschließt, ändert sich die Lage der Rentenkassen noch lange nicht.

Fast ein Waterloo erlebte die SPD-Führung im Fall Sarrazin. Natürlich fehlten weder Gabriel noch andere SPD-Größen bei den verbalen öffentlichen Hinrichtungen des Bücher schreibenden Bundesbankers. Schnell merkten die Genossen jedoch, daß sie von der eigenen Basis schätzungsweise genausoweit entfernt sind wie die Kollegen von der CDU: Die SPD-Zentrale wurde mit Briefen, Mails und Anrufen von Mitgliedern überhäuft, die gegen das Ausschlußverfahren gegen Sarrazin protestierten. „Ehrlich gesagt: Momentan haben wir keinen Überblick, was die Mehrheit der Parteibasis denkt“, zitierte das Handelsblatt einen verzweifelten SPD-Mann.

Die augenblickliche Stärke der SPD resultiert aus der Schwäche der Union. Schon die Regierungsübernahme in Nordrhein-Westfalen wirkte wie ein mit schwindenden Kräften vollzogener Akt. Auch in Baden-Württemberg würde die SPD nur gewinnen können, wenn CDU und FDP weiter verlieren. Die SPD bietet nichts, was die Grünen nicht eleganter und die Linkspartei nicht energischer bieten könnte. Sie erscheint wie ein siamesischer Zwilling der dahinsiechenden Union. Beide Volksparteien scheinen am Ende, nachdem ihnen das Volk gekündigt hat.

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