© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Todesverliebt
Tor zum Paradies: Walter Rheiners „Kokain“ als Hörbuch
Harald Harzheim

Ein junger Mann im schwarzen Anzug, mit geschlossenen Augen schwebt er aus dem Fenster. Eine Hand krallt noch die Gardine, im Arm steckt die tödliche Morphiumspritze. Der Himmel blauschwarz, tief unter ihm: das hektische Funkeln und Blitzen der Großstadt. – Dieses Gemälde des Expressionisten Conrad Felixmüller trägt den Titel „Der Tod des Dichters Walter Rheiner“ (1925). Wer aber war jener Walter Rheiner, der zu solchem Denkmal inspirierte?

Rheiner war einer der besten und einer der hilflosesten Poeten in rauschhafter und todesverliebter Zeit. Sein frühes Ende mit dreißig Jahren schien vom Schicksal beschlossen. Er vollstreckte es am 12. Juni 1925 durch eine Überdosis Morphium in der Berliner Kantstraße. Er, der sich selbst einen „düsteren Dichter“ nannte und sein Verlöschen unzählige Male vorwegnahm: „Es ist der Tod, der Trost gibt, ach, und Leben schenkt, / Es ist das einzige Ziel des Daseins, das wir sehen, / Er ist die Hoffnung, die mit ihrem Rausch uns tränkt / Wie Wein, und Mut macht, bis zum Abend durchzustehen. / Er ist das Licht, das, tief am Horizont versenkt, / Herflimmert durch den Frost, durch Sturm und Flockenwehen, / Er ist der Gasthof, den das Buch mit Lob bedenkt, / in dem man essen kann, ausruhn und schlafen gehen. / Er ist ein Engel, der mit seiner Zauberhand / In Schlaf entrückt und ins verzückte Traumesland / Und weich ein Bett macht für die armen, nackten Leute. / Er ist der Götter Ruhm, er ist das Schatzverlies, / Er ist des Armen Korn, die Heimat einst und heute, / Er ist das Tor zum niegekannten Paradies.“

Der Dichter kam am 18. März 1895 in Köln als Walter Heinrich Schnorrenberg zur Welt. Schon als 17jähriger spürte er seine lyrische Begabung, frühe Gedichte fanden Beachtung unter hochrangigen Kollegen, darunter Yvan Goll und Theodor Däubler. Ständig nach bezahlter Arbeit suchend, es aber nirgendwo lange aushaltend, irrte er von einer Stadt zur nächsten – nach Lüttich, Paris, Dresden bis München, aber das Zentrum seiner Sehnsucht hieß Berlin.

Als Nachtmensch, der den Tag verschlief, traf er im „Café des Westens“ auf Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, Jakob van Hoddis, Mynona und Gottfried Benn. Berlin schien ihm verführerisch wie eine Frau, oft verglich er die Stadt mit dem Filmvamp Asta Nielsen. Hier begegnete er auch seinem Dämon – dem Morphium. Das half ihm gegen zahlreiche Ängste. Ihm, der Nietzsches und Rimbauds Tragödien nicht las, sondern aß, der bekannte: „Ich bin ein Mensch, ich fürchte mich.“

So „brauchte“ er das Rauschgift zuletzt mehr als seine Frau Frederike und beider Kinder, die sich mit Poesie, Prosa und Rezensionen kaum ernähren ließen. Zwar druckten ihn fast alle modernen Kunstzeitschriften, einmal kam er sogar als Redakteur unter, aber das Gehalt blieb erbärmlich. Frederike, genannt „Fo“, die er als „Helena, Diotima, Beatrice“ und als „Jungfrau Maria“ verklärte, wurde in den ärmlichen Verhältnissen lungenkrank. Schließlich ließ sie sich scheiden. Da lag der entmündigte Rheiner schon in der Psychiatrie.

Nach seiner Entlassung hetzt der Dichter noch einmal durch Berlin: von morgens bis abends fleht er um Arbeit. Vergeblich. Die krisengeschüttelte Stadt erscheint ihm jetzt als kalter Moloch. Bis die Überdosis in der Kantstraße dem ein Ende setzt. Ein Finale, das seine „Kokain“-Novelle (1918) bereits vorwegnahm, jene Erzählung vom Berliner Selbstmörder Tobias, gefoltert vom „metaphysischen“ Drang nach Gift, das ihm „Sein und Zeit“ (!) bedeutet hat.

Als Walter Rheiner starb, war sein Werk schon fast vergessen. Leider nahm auch Frederikes Leben ein furchtbares Ende: 1941 wurde sie als „Halbjüdin“ vom NS-Regime ermordet.

Daß man jetzt die Gedichte, Briefe, die „Kokain“-Erzählung und eine Kurzbiographie von Walter Rheiner wiederentdecken, in guter Lesung hören kann, dafür hat die Edition Apollo mit Interpreten wie Helmut Krauss, Ulrich Tukur oder Isabella Lewandowski gesorgt. So ist dem Verlag nach Manfred Hausmanns „Kleine Begegnungen mit großen Leuten“ (JF 16/10) ein weiterer, ein noch größerer Coup gelungen. Hoffentlich findet er die Ohren all jener, die ihrer „Pflicht zum Glücklichsein“ (Peter Sloterdijk) und zum „Genuß“ nicht nachkommen können. Zu den Untröstlichen, denen nur jene Trost spenden, die selbst gelitten haben.

Walter Rheiner: Kokain. Biographie, Lyrik, Prosa, Briefe. 2 CDs. Edition Apollon, Königs Wusterhausen 2010, 17,99 Euro

Tadellöser & Wolff: Literatur auf der Bühne: Am kommenden Sonntag (26. September) findet im Altonaer Theater in Hamburg die Uraufführung der von Regisseur Axel Schneider eingerichteten Bühnenfassung des Romans „Tadellöser & Wolff“ von Walter Kempowski statt. Die Vorstellungen laufen bis zum 7. November. Eine Kritik des Stücks lesen Sie in einer der nächsten JF-Ausgaben. Internet: www.altonaertheater.de

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