© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Nihilistische Spiele
Dissident wiederentdeckt
Norbert Westhof

Seit den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wegen regimekritischer Äußerungen mit einem Publikationsverbot belegt, verläßt Georgi Markov sein Geburtsland Bulgarien und setzt seine Schreibtätigkeit im Londoner Exil fort, bevor er im Jahre 1978 den Folgen eines politischen Mordanschlags mit einer von einem bulgarischen Agenten präparierten Regenschirmspitze, der als „Regenschirmmord“ bekannt geworden ist, erliegt. Mehr als zwanzig Jahre nach diesem spektakulären Mord erscheint im Wieser Verlag die deutschsprachige Übersetzung einer Novelle des 1929 in Sofia geborenen Autors, eine Novelle, welche an politischer Aktualität nichts zu wünschen übrigläßt.

Strategisch wie Stefan Zweig in seiner „Schachnovelle“ bedient Markov sich einer Spielmetapher, um den Nihilismus des kommunistischen Staatsregimes Bulgariens in den späten sechziger Jahren zu demaskieren. Doch geht es bei Markov nicht um die hohe Kunst des Schachspielens, sondern um das Pokerspiel. Markov lehrt uns über dieses Spiel: Wer pokert, wolle Mitspieler täuschen, bluffen oder sich bessere Karten geben. Wir deuten: Ein Spiel, dessen Sinn im Regelbruch bestehe, sei sinnlos, ein absurdes Spiel, eben das Spiel der Nihilisten, welchen nichts mehr gilt, weil alles gelte. Ferner: Poker spiele man nicht, um zu gewinnen. Das ist eher sinnlos, werde Poker doch leicht zur Sucht. Um so mehr die Spieler in Anspruch genommen würden, desto tiefgreifender hebe Poker deren Lebenssinn auf, mache deren Leben selbst gewissermaßen zum Spiel. Diese moralische, ja metaphysische Dimension der Spielmetapher bei Markov läßt aufhorchen.

Es ist zu fragen, ob die metaphorische Botschaft dieser regimekritischen Novelle letztlich nicht in der Warnung vor einer generellen Lebensangst politisch Betrogener wie der Betrüger gleichermaßen liegt: „Hab keine Angst“. Ist für jenen ein „verborgenes Leben“ im inneren bzw. äußeren Exil Überlebenskampf, also gerade kein Spiel, so betrügt ein nihilistischer Betrüger vor allem sich selbst, nimmt sich allen Lebenssinn.

Zu lernen wäre daraus: Noch haben wir Freiheiten. Wie lange noch? Uns bleibt zu lesen – und vielleicht: selbst zu schreiben. Wer weiß, wie alles sich entwickeln wird? Bleiben die Gedanken frei? Diese Frage ist ja gerade kein Spiel! Markov kann mit dem ästhetischen Spiel offenbar politisch wirken – hoffentlich vielen zum Vorbild! Die Moral der Ge-schicht’: Erkenne dich selbst, lebe authentisch! Solange es noch geht.

Georgi Markov: Das Portrait meines Doppelgängers. Novelle. Wieser Verlag, Klagenfurt 2010, broschiert, 88 Seiten, 18,80 Euro

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