© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

Vom Glauben zum Schweigen
Das Evangelium der Dichtkunst
von Steffen Köhler

Verstummen christliche Dichter? Kann man sich dem Geheimnis Gottes am besten im Schweigen nähern? Gibt es einen ethischen Konflikt zwischen Kunst und Literatur einerseits und Religiosität andererseits?

Die meisten Religionen sind Buchreligionen oder solche heiliger Schriften, deren Abfassung als inspirierter Vorgang gilt. Diese Schriften sind sowohl epischer, dramatischer als auch lyrischer Natur, was eo ipso eine gewisse Konkurrenz zwischen religiös und ästhetisch inspirierten Texten aufbauen könnte: Mal stand der Heilige Geist bei, mal küßte die Muse.

Ein grundsätzliches Aufplatzen von Gegensätzen erfolgte massiv in Martin Luthers Hochstilisierung der Schrift als alleinigem Erkenntnisinstrument unter Ausschaltung der Tradition – sola scriptura – bei gleichzeitiger Relativierung ungenehmer Schriften wie der „strohenen“ Jakobusepistel. Die Romantiker haben den Spieß umgedreht und den reformatorischen Wortglauben nicht durch Beschneidung der Bibel implodieren, sondern durch die Universalisierung und Poetisierung explodieren lassen: Jedes Dichterwort sei inspiriert, jedes Fragment Ganzheit, jeder Schreiber Evangelist.

Schreiben als Religion, Religiosität des Schreibaktes – die scholastische Inspirationstheorie wanderte aus der Kirche mit der zeitgleich aufkommenden sogenannten kritischen Lesart der Bibel im 18. Jahrhundert ins Reich der Dichter aus. Man begann dort, sich als Genie zu fühlen. Demgegenüber begannen die Theologen zu zweifeln, wie „echt“ die Schrift sei und schließlich, ob es überhaupt Evangelisten gegeben habe oder nicht vielmehr anonyme Ghostwriterkollektive.

Die Scholastik betonte die göttliche Inspiration der heiligen Schriften, bei Luther gilt die Schrift selbst als heilig. Seit dem Geniekult der Romantik ist jedes Dichterwort inspiriert, jedes Fragment Ganzheit, jeder Schreiber Evangelist. Schreiben wird zur Religion.

Noch Franz Kafka glaubte, wenn er einen banalen Satz niederschreibe, so sei dieser bereits perfekt. Stefan George maß dem Dichterwort höchste Wirklichkeitsmacht zu: Kein Ding sei, wo das Wort gebreche. Rainer Maria Rilke schrieb seine „Duineser Elegien“ in wenigen Tagen ekstatisch nieder. Dieser natürliche Künstlernarzißmus, die egoistische Hingabe an das eigene Werk, diese artistische Selbstumkreisung fördert nicht das Charisma der Heiligkeit, sondern ist Gegenspieler altruistischer caritas bzw. Bewunderung biblisch-göttlicher Inspiration.

Dies wäre wohl eine erste Antwort auf Georg Oblingers Frage nach dem Grund des Fehlens von Sprachkünstlern im Heiligenkalender. Daß solcherlei artistische Höchstform – sei sie wirklicher oder eingebildeter Natur – als häßlichen Zwilling das Gegenteil hervorbrachte, verwundert nicht: Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos zerfallen die Worte wie modrige Pilze im Mund. Doch bereits hier empfiehlt es sich, genauer hinzusehen: Nicht Sprachskepsis an sich läßt ihn diese Aussage treffen, sondern ein mystisches Erlebnis, das er nicht in Worte zu fassen vermag, ein unübersetzbarer existentieller Rest. Das ist etwas anderes.

Es ergibt sich daraus eine doppelte Qualität von Schweigen, nämlich das einer frustrierten Negation und das eines souveränen Überstiegs. Damit wäre der Unterschied von protestantischem und katholischem Sprachverständnis im Ansatz skizziert. Dialektik einerseits: der Dichter ist alles oder nichts, totaler Sünder oder Heiliger; und Seinlassen, Stehenlassen, Weitergehen andererseits.

Die oft mißverstandene Selbstaussage Thomas von Aquins – dies wird man gegen Georg Oblingers Thesen festhalten müssen – ist die eines Mystikers nach einer Vision und nicht die eines Skeptikers wie Botho Strauß! Daß Thomas den Griffel niederlegt, ist noch ein Teil des thomanischen Denkens und somit „systemimmanent“. Daß hingegen der echten sprachskeptischen Verzweiflung gigantische, implizit sprachgläubige Diskurse über das Scheitern folgen, gehört in den Bereich jener Widersprüche, die das dialektische Denken liebt. Bekanntermaßen zweifelt Hans Küng weniger am päpstlichen Lehramt als an der Gültigkeit von Sprache überhaupt.

Literarische Potenzprobleme werden durch die Pille der Theorie behoben, ja sie macht selber literarische Ansprüche geltend, will elegante, tiefschürfende Prosa sein. Die Exklusivität des Gotteswortes verführt den protestantischen Pfarrer zur Endlospredigt, von der er nicht weiß, ob sie angesichts des Gotteswortes wertlos oder deren kongeniale Fortsetzung ist.

Völlig verschieden davon ist der romantische Monolog, programmatisch entworfen von Novalis, fortgeführt etwa in den Statischen Gedichten eines Gottfried Benn. Fernab der Menge für sich selber geschrieben und allenfalls „Archivarius“ Oelze ist eingeweiht. Das ist kein echtes Schweigen, auch oder gerade wenn nichts publiziert wird. Das ist Wortglaube aus dem protestantischen Pfarrhaus, der ohne Publikum vor sich hin arbeitet, elitär bis zum Verschwinden, dem Nichts die Form abringend und diese zur Not auch ohne Publikum ins Nichts zurückfallen lassend.

Die Rhythmik Nichts-Sein-Nichts ist durchaus hegelianisch gemeint, und Botho Strauß gehört sicher in diese Tradition. Und das nicht nur im Hinblick auf seine protestantischen Abendmahlsäußerungen im „Bocksgesang“: Angeekelt vom Gang der Dinge beginnt man vor dem Spiegel zu sprechen.

Auch einen Gómez Dávila kann man hier einreihen; er lästert zwar über die Poetologie der Klassischen Moderne, um sich dann faktisch an ihre Maximen zu halten, aber vielleicht kann man ihn gerade deshalb einen „katholischen Protestanten“ nennen. Wie anders Sören Kierkegaard! Ängstlich, er könne Inspiration stehlen und anmaßen, wird er protestantisch ebenso total negiert wie von Benn total bejaht. Bloy, der Radikalkatholik und in dieser Radikalität eben nicht immer katholisch, paßt gut in dieses Kabinett.

Die Frage, die sich grundsätzlich stellt, lautet: Wieso denken die christlichen Literaten häufig in protestantischen Mustern, selbst die konfessionellen Katholiken? Der literarischste aller katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der große Übersetzer und Verleger Hans Urs von Balthasar, vertrat immer wieder protestantische Häresien. So etwa in seiner „Theologie der drei Tage“. Paul Schütz, der große Kritiker des Protestantismus, wurde protestantischer mit jeder Kritik.

Das Dialektisieren, sei es wortimmanent oder grundsätzlich gegenüber den Worten, das Verschärfen von Spannungen scheint poetisch anzuregen. Heiner Müller, der große Gegensatzmann und posthegelianische Geschichtsdeuter, treibt dieses Spiel bis in die Antithesen und Inversionen, die er in fast jeden Satz hineinmontiert.

Die jüdischen Intellektuellen stehen wohl als Wortausleger und -kultivierer den Protestanten systematisch am nächsten. Die hegelianische Dialektik finden wir etwa in Paul Celans Büchnerpreisrede. Dort sagt er, das Gedicht habe die Tendenz zu verstummen. In seinem Werk „argumentum e silentio“ will er gar das Schweigen ins Wort bringen – ein paradoxer Vorgang, wie alles Hegelianische im Kern selbstwidersprüchlich ist. Seiner Selbstnegation der Lyrik, dem Gegenteil von Franz Kafkas „protestantischer“ Schreibgläubigkeit, stellt er das offensive Bekenntnis zur Wirkungsästhetik an die Seite. Er will das „Herzland“ des Lesers gewinnen. Göttlich inspiriert fühlen sich die Poeten allemal: „Man handelt nicht, es passiert“, schreibt Hilde Domin, oder Rose Ausländer: „Ich bin gespannt auf die Worte, die zu mir kommen wollen.“ Das Verbrennen von Texten oder die Beauftragung hierzu (Franz Kafka an Max Brod) unterstreicht die Fokussierung auf den Schreibakt. Er ist in sich gültig auch ohne Rezeption, das Resultat ist für den Ekstatiker zweitrangig. Ein „Verstummen“ nach Deutung Georg Oblingers ist das nicht.

Die jüdisch-protestantische Linie ist qualitativ von der katholischen geschieden. Das muß nicht heißen, daß konfessionelle Katholiken nicht in protestantischen Denkbahnen arbeiteten. Es geht in der Poetologie ja um ein Denksystem, in dem Dinge möglich oder eben nicht möglich sind. Das subjektiv Faustische wird man einem echten Dichter kaum ausreden können, Größenwahn gehört hier ebenso zur Arbeit wie Selbstzweifel, katholisch hin oder her.

Der protestantische Spitzensatz allerdings, den Georg Oblinger in seinem Essay als allgemein christlich hinstellt, nämlich dem Geheimnis Gottes könne man sich am besten im Schweigen nähern, ist sicher das Gegenteil von einer christlichen Logostheologie, die auf Gottes Wort Antwort gibt. Jener Satz stammt aus dem spirituellen Arsenal Karl Rahners, der hegelianisch-dialektische Brüche statt Übergänge hervorrufen will.

Menschliches Wort konkurriert nicht grundsätzlich mit dem göttlichen. Der Mensch ist mit Gott konkreativ – eine Einsicht, die Joseph Ratzinger von Augustinus übernommen hat und als Bischofsmotto variierte: cooperatores veritatis (Mitarbeiter der Wahrheit).

Nicht im Schweigen nähert sich der Mensch Gott am besten, sondern im von Pausen rhythmisierten Wort. Und er spitzt die Ohren, damit er die Konsekrationsworte aus Martin Mosebachs „Langer Nacht“ nicht überhört: Hoc est enim corpus meum (Denn dies ist mein Leib ...).

Der Übergang vom Wort ins Brot ist freilich grundsätzlich geschieden von Kafkas paradoxer Türhüterparabel, die in „Der Prozeß“ ironischerweise in einem katholischen Dom verlesen und bis zur Sinnlosigkeit zerredet wird: Mosebach geht es ja nicht allgemein um christliche, sondern um katholische Literatur. In seinem Essay „Häresie der Formlosigkeit“ hat er deutlich gemacht, daß der gregorianische Choral die angemessene Einfassung der Liturgie ist. Letzterer beruht auf Wortkunst, die in Musik übergeht, ohne Wagnerianische Dekoration.

Daß Dichter verstummen, ist kein christliches Spezifikum. Wer anfängt zu glauben, muß nicht schweigen. Das menschliche Wort konkurriert nicht mit dem göttlichen. Gott und Mensch sind konkreativ. Aber: Alles hat seine Zeit – auch die Schreibfeder.

Gegen Georg Oblingers Verstummungsthese spricht, daß das Schweigen katholischerseits ein Redenkönnen, ein Ermächtigtsein bei gleichzeitigem souveränem Verzicht bedeutet. Der Papst kann als relativer Dezisionist Dogmen formulieren und behaupten, diese seien unfehlbar; er kann es aber auch lassen. Dogmen sind existentielle Sprechakte, die etwa Joseph Ratzinger als Entsprechung zur ostkirchlichen Preisung ansieht: Vom Heiligen her, auf das Heilige hin. Da nicht ständig dogmatisiert wird, kann man mit Rilke sagen: „Man schweigt und hat die lichten Worte mit.“

Die Evangelisten und der Völkerapostel schrieben vermutlich im für antike Verhältnisse hohen Alter, ja fast bis zum Tod. Daß der Evangelist Johannes nicht doch als alter Mann sein opus magnum verfaßte, wird heute in der Forschung nicht mehr so barsch abgelehnt wie noch vor Jahrzehnten. Man wird dort demütiger. Zudem handelt es sich ja exegetischerseits nur um „Hypothesen“ (Joseph Ratzinger).

Die biblischen Schriften stehen teilweise in ihrer auch künstlerischen Fertigkeit der Moderne kaum nach. Formulierungen und Gedankengänge etwa eines Paulus drängen immer wieder ins Artistische, berühren auch das Paradox, ohne es freilich in seiner vollen protestantischen Widersprüchlichkeit zu meinen. Auch Paulus ist ein Künstler. Diese Texte alter Männer werden im Heiligtum erneut zu heiligem Schall – vom Heiligen Geist inspiriert, pneumatisch von ihm unterfaßt und auf Christus ausgerichtet, der zum Vater führt.

Vielleicht gibt es eine andere Erklärung für das Verstummen, das Georg Oblinger zu ergründen sucht. Es gibt für alles eine Zeit. Den Kairos des Aufhörens zu finden, ist kein christliches Spezifikum. Arthur Rimbaud vollendete sein Werk noch vor dem zwanzigsten Geburtstag und wurde Waffenhändler, ohne eine einzige Zeile mehr zu schreiben.

Es gibt Dichter, die irgendwann ganz einfach keine Lust oder Kraft mehr zum Arbeiten haben und lieber beten oder mit Waffen handeln – ganz ohne Schweigetheorie. Der verzweifelte Seniorensexroman à la Martin Walser stellt für diese Poeten keine realistische Option dar.

 

Dr. Steffen Köhler ist Theologe, Studienrat und Fachbuchautor zu den Themen Literatur und Religion. In seinem neuesten Buch „Der versteckte Christus“ (Röll-Verlag 2009) beschreibt er Wege zu einer katholischen Rezeption moderner Kunst.

Georg Oblinger vertrat in seinem Forum-Beitrag „Das Verstummen der christlichen Dichter“ (JF 33/10) die These, die Nähe zum Heiligen brächte die Dichter zum Schweigen. Literatur sei nur ein Vorraum zum Glauben. Dem Geheimnis Gottes könne man sich am besten im Schweigen nähern. Hierauf antwortet nun der katholische Dogmatiker Steffen Köhler. (JF)

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