© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Der Aufbruch
Vor 20 Jahren endete die Bonner Republik
Karlheinz Weissmann

Wenn man heute die Zeitschriftentitel der Jahre 1989/90 durchgeht, erstaunt nicht nur das Tempo des Stimmungswandels, sondern auch das Schwanken der Einschätzungen zwischen Depression und Euphorie, zwischen „Ein Volk in Panik“ und „Supermacht Deutschland“. Beide Titel präsentierte der Spiegel, genauso wie eine Ausgabe mit der Schlagzeile „Preis der Einheit – Das Ende der Bundesrepublik“, dazu der Kopf des Bundestagsadlers, zum Abtransport verpackt. Das zentrale Thema der Nummer vom 12. März 1990 waren die Volkskammerwahlen und die Annahme, daß sich damit „Das Ende der Bundesrepublik“ vorbereite, denn in der untergehenden DDR traten politische und gesellschaftliche Kräfte auf, die deutlich von denen im Westen verschieden waren, aber zukünftig Einfluß auf die gesamtdeutsche Entwicklung nehmen würden.

Das Spezifische lag zuerst in der intensiven Verknüpfung von Moral und Politik, die vor allem die Bürgerrechtsgruppen kennzeichnete, dann im Einfluß der Kirche, weiter im Auftreten eines bunten Sammelsuriums von linken und linksradikalen Gruppen jenseits der SED, alle auf der Suche nach einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ oder „Dritten Weg“, und schließlich in einem naiven Basisnationalismus, der bei den Massenprotesten zum Ausdruck kam. In vielem konnte man sich an die Selbstfindungsphase der Zusammenbruchsgesellschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert fühlen, aber auch an eine Wiedergängerei der fünfziger Jahre, samt Neutralitätsdebatte und Erwägungen zu Geopolitik und Sonderweg. Jedenfalls waren die tonangebenden Kreise der Bundesrepublik in hohem Grad irritiert und sahen sich gleichzeitig mit der Wucht eines Prozesses konfrontiert, den sie nicht aufhalten, nur noch verlangsamen oder abbiegen konnten.

Der Widerwille gegen die Vereinigung mit der DDR war vor allem in der Intelligenz verbreitet und reichte von Verehrern der „angelsächsischen Weltzivilisation“, die nichts mehr fürchteten, als „das trockene Knarren der Fichten der Mark Brandenburg“ (Alexander Gauland), bis zu den notorisch „vaterlandslosen Gesellen“, die meinten, ein deutscher Nationalstaat werde mehr oder weniger umstandslos zu einem „zweiten Auschwitz“  führen (Günter Grass). In der erwähnten Ausgabe des Spiegel schrieb Walter Boehlich als Sprecher der arrivierten Linken: „An unserem ‘Reich’ hängt der Ludergeruch, und außer uns wissen so ziemlich alle, wie wir uns verhalten können, wenn unsere Begehrlichkeit geweckt ist. Ein Großreich bekommen wir sowieso nicht mehr, aber schon Deutschland als Hegemonialmacht in Europa wäre nicht im Interesse der anderen Europäer.“

Boehlichs Haltung war typisch, vor allem das Bedürfnis nach Fremdidentifikation, die Neigung, sich ungebeten die Sorgen der anderen zu machen, lange trainiert, gespeist aus reeducation, Salonkommunismus, traditioneller Reichsfeindschaft, und führte ausgerechnet in Kreisen, die bis dahin nicht hämisch genug über die „BRD“ sprechen konnten, zu einer merkwürdigen Nostalgie. Plötzlich erschien die alte Bundesrepublik in verklärtem Licht, Bollwerk gegen den unheimlichen „Osten“, da wollte jeder Adenauers Enkel sein, weil der die Deutschen zu ihrem eigenen Besten von allen nationalen Versuchungen ferngehalten hatte.

Die späte Sorge um das „Ende der Bundesrepublik“ kann man als Symptom einer Entwicklung auffassen, die seit langem und von verschiedenen Kräften forciert worden war, um die Idee eines Kernstaates, wie ihn das Grundgesetz vorsah, zu beseitigen. Als 1958 der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier forderte, die Vorläufigkeit des Grundgesetzes im Blick zu behalten und dessen „baldige Ablösung durch eine neue in ganz Deutschland gültige Reichsverfassung“ zu betreiben, überhaupt die Politik auf die „Wiederherstellung des Reiches“ auszurichten, löste das einen Eklat aus, nicht zuletzt in seiner eigenen Partei, der CDU. Nacheinander verlangten die tonangebenden Kräfte der Bundesrepublik – der politische Katholizismus, dann die verfassungspatriotische Mitte, schließlich die nationsvergessene Linke – den „Abschied vom Provisorium“ (Karl-Dietrich Bracher).

Das erklärt viel davon, warum die politische Klasse 1989 dem Zusammenbruch der DDR nicht nur überrascht, sondern auch mißbilligend gegenüberstand, und wer nicht offen oder verdeckt gegen die Einigung opponierte, der betrieb doch die „Einbindung“, garantierte, daß Deutschland künftig nicht als souveräner Staat auftreten werde, sondern als Teil eines größeren – europäischen, weltrepublikanischen – Ganzen. Nur eine kleine Gruppe verweigerte diesen Konsens. Peter Glotz hat sie als „Normalisierungsnationalisten“ bezeichnet. Das war hämisch, aber treffend, denn so wurden gleichzeitig die tonangebenden Kreise markiert, als die, die ihre Legitimität und ihre Interpretationsmacht aus der Aufrechterhaltung einer Anomalie herleiteten: die Deutschen als Schuldträger, als Nichtnation, Deutschland als geteiltes Land, als Nichtstaat.

Gegen jede historische Gerechtigkeit konnte sich dieses Establishment behaupten, während die Normalisierungsnationalisten an den Rand gedrängt wurden, obwohl die Entwicklung ihnen je länger je mehr recht gegeben hat. Die wichtigste Ursache dafür war die Wiedervereinigung selbst. Zwar ist Deutschland nicht „östlicher“ und „protestantischer“ (Lothar de Maizière) in dem Sinne geworden, daß eine Art Neu-Preußen entstand, wie wenige gehofft und viele gefürchtet hatten, aber die Berliner ist auch nicht mehr die Bonner Republik, die Verlagerung der Hauptstadt und die Ausdehnung des Staatsgebiets mußten Konsequenzen haben, das gilt auch in einem so vordergründigen Sinn wie der Entstehung einer deutschen Metropole. Von Normalisierung ist aber vor allem zu sprechen in bezug auf die Bereitschaft, sich den Aufgaben zu stellen, die einer politischen Macht wie der deutschen aufgegeben sind. Heute ist kaum noch vorstellbar, daß der hysterische Pazifismus wiederkehrt, der einmal die Auslandseinsätze der Bundeswehr begleitete. Wer wagte es, zu bezweifeln, daß die deutsche als eine Mittellage besondere Beziehungen zu Rußland einerseits, den ostmitteleuropäischen Staaten andererseits erfordert? Wer würde in Abrede stellen, daß die wachsende Distanz zu den USA, die Wahrnehmung des Weltstaatensystems als Pluriversum auf die normative Kraft des Faktischen zurückzuführen ist?

Allerdings entspricht dem Wandel der Lage noch kein Wandel des Bewußtseins. Weder das schwarz-rot-goldene „Sommermärchen“ noch die „Schland“-Begeisterung können im Ernst als Indikatoren für einen neuen Patriotismus betrachtet werden. Denn dazu gehört mehr als Fahnenschwenken und Freudentaumel und Frolleinwunder. In dem Sammelband Die selbstbewußte Nation – einer Art Manifest der Normalisierungsnationalisten – hatte Botho Strauss geschrieben, es gehe für Deutschland nach 1989 um „Tiefenerinnerung“, „Wiederanschluß“ an die Vergangenheit, nicht nur um Wiedervereinigung.

Foto: Wiederauferstandene Pracht in Mitteldeutschland nach der Wiedervereinigung: Neues Palais in Potsdam, Marktplatz von Quedlinburg, Frauenkirche in Dresden, Seebrücke in Sellin, Rathaus in Görlitz, Krämerbrücke in Erfurt (von oben nach unten)

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