© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Der Flaneur
Frühstück mit Gebet
Josef Gottfried

Beim Spaziergang am Morgen ist es noch hell, aber schon dunkel genug, daß erleuchtete Fenster ihr Licht auf die Straße werfen. Das warme Leuchten zieht an, verführt Spaziergänger wie schwirrendes Insekt zu einem Blick in das Leben der anderen. Das Halbdunkel draußen und die naive Wärme in den Zimmern erlauben den teilnehmenden Voyeurismus, ohne gleich von den Insassen ausgemacht oder gar angeschaut zu werden.

Unter den Füßen knirscht und knackt das trockene Laub, man muß es nur ein wenig achten und schon riecht es überall danach. Der Geruch steigt angenehm in die Nase, was seltsam genug ist, schließlich ist es doch der Geruch von Zerfall. Der Gestank eines Kadavers löste Ekel, Mitleid, Entsetzen aus. Totes Laub aber nicht. Vielleicht macht die Gewißheit der Wiedergeburt, des Wiederaufblühens der Bäume im kommenden Frühling gerade diese Verwesung kommod.

„Im Viertel wohnen 5.000 und da sitzen fünf. Das soll das Salz der Erde sein?“

Aus manchen Fenstern scheint wirklich schon Licht, aus einem kommen auch Geräusche, Musik. Der Klang einer Akustikgitarre, irgendwie zu laut, fünf bis sechs dünne Stimmchen singen dazu. Dich will ich preisen, o Herr, du liebst mich, obwohl du mich kennst. Hört sich schräg an. Die Töne jedenfalls. An der Wand hängt etwas schief ein Kreuz. Auf dem Tisch stehen Brötchen, Aufschnitt, arabisches Gebäck und Kaffee. Auch ein Pflaumenkuchen aus dem Supermarkt, halb aufgegessen, halb originalverpackt. Ein Aushang weist das Treffen als „Gebetsfrühstück“ aus. Jeder starrt in sein Gesangsbuch, liest die Texte ab. Da sind fünfe in seinem Namen versammelt. In diesem Viertel wohnen 5.000 und da sitzen fünf. Ihre Physiognomie wirkt wie die dieser Kinder, die auf dem Schulhof immer allein standen. Der Raum ist trostlos eingerichtet. Keiner macht den Eindruck, als singe er aus voller Brust, einige Rücken sind rund beim Sitzen. Das soll also das Salz der Erde sein? Das ist das Salz der Erde!

Menschen, die nicht auf ihre Vorfahren zurückblicken, werden auch nicht an ihre Nachwelt denken. Edmund Burke (1729–1797)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen