© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Arroganz der Ohnmacht
Bürgerprotest: Stuttgart 21 als Menetekel – wie alle Beteiligten die Maske fallen lassen
Moritz Schwarz

Mappus will Blut sehen“, mit diesen Worten ging Cem Özdemir nach dem gewaltsamen Polizeieinsatz gegen die Stuttgart-21-Blockierer letzte Woche auf den baden-württembergischen CDU-Premier los – und entschuldigte sich kurz darauf für seine Entgleisung. Während Konservative oder Bundesbanker schon für viel, viel weniger als Populisten gebrandmarkt werden, kann der Grünen-Chef allerdings ganz gefahrlos auf Rammkurs gehen, denn kaum jemand in Politik und Medien nimmt dem netten Cem so etwas wirklich übel. Özdemir aber hat sein Signal gegeben: Den Gefühlen Abertausender zornentbrannter Stuttgart- 21-Gegner im ganzen Land hat er Ausdruck verliehen. Denn bald ist Erntezeit – schon im März sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg.

Das also ist die Falle, in der die Südwest-CDU sitzt und in der sie sich immer weiter verfängt. Stuttgart 21 ist zu einem gigantischen Durchlauferhitzer für die Grünen geworden. Wie ein gewaltiger Laubsauger saugt der Protest inzwischen sogar CDU-Stammklientel an. Im Stuttgarter Gemeinderat hat die Wunderwaffe den Grünen bereits das Unglaubliche ermöglicht: 2009 lösten sie die CDU als stärkste Fraktion ab. In der Wirtschaftsmetropole Stuttgart eine Sensation. Schon lassen die Grünen durchblicken, einer der ihren könne Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) ersetzen und der nächste Ministerpräsident Winfried Kretschmann, noch Grünen-Fraktionschef im Landtag, heißen. Ob der Plan allerdings aufgeht, weiß keiner. Denn Baden-Württemberg ist nicht Stuttgart; bis mit Baubeginn im August plötzlich ganz Deutschland auf den „Umbilicus Sueviae“ blickte, den „Nabel Schwabens“, wie der alte Bahnhof heißt, hatten sich nur wenige Bürger im Ländle dafür interessiert. Die Sache galt als Stuttgarter Angelegenheit. Die Gefühlslage im Land ist also nicht ohne weiteres mit der in Stuttgart gleichzusetzen. Zudem sind es bis zur Wahl noch sechs Monate. Viel Zeit, in der der grünen Wahlkampfmaschine die Luft ausgehen könnte, zumal führende Landesmedien bereits angekündigt haben, die derzeit hohe „Taktzahl“ der Berichterstattung nicht durchhalten zu können.

Doch Polizeieinsätze wie der vom 30. September nähren die Flammen: Wasserwerfer gegen Schüler, Reizgas gegen Rentner und 130 Verletzte. Die Härte des Einsatzes war ein Skandal und sie war, wie der Diplomat Talleyrand einst formulierte, „schlimmer als ein Verbrechen, nämlich ein Fehler“.

Laut Infratest sind nur noch 35 Prozent im Südwesten für das Projekt, 54 Prozent aber dagegen, selbst in den Reihen der CDU will ein Drittel nicht mehr mit. Stuttgart 21 hat also das Zeug dazu, im März für die CDU zum Desaster zu werden. Allerdings nur dann, wenn es Grünen und den übrigen linken Gruppierungen, die die Protestbewegung in „Volksfront“-Manier längst unter Kontrolle gebracht haben, gelingt, das zu tun was sie sonst anderen vorwerfen: die Auseinandersetzung populistisch aufzublasen, zur letzten Schlacht um die Demokratie: wir hier unten gegen die da oben, Volk gegen Staat, Bürger gegen Großkopfete.

Dabei ist es alles andere als das. Die Protestbewegung verweist auf die 54 Prozent gegen das Projekt, unterschlägt aber die 35 Prozent dafür. Zusammen mit elf Prozent Unentschlossenen: 46 Prozent Volk, das in der anmaßenden Propagandasprache der Protestler – „Wir sind das Volk!“ – mal eben unter den Tisch fällt. Ebenso wie die Tatsache, daß sich die angeblich undemokratische Gegenseite an die Spielregeln gehalten, das Bauvorhaben alle demokratischen Instanzen durchlaufen hat.

Wie „demokratisch“ die Protestbewegung dagegen ist, zeigt sich dann, wenn sie die Stärkeren sind: Da ist ein Pfarrer im Ruhestand – kein Großkopferter, ein Bürger –, der mit Pro-Neubau-Plakaten auch am Bahnhof demonstrieren wollte: Plakate abgerissen, Mann vertrieben. Da sind 150 Dauerläufer, die als Befürworter regelmäßig quer durch die Stadt zum Bahnhof rennen, dort aber angesichts der „gewaltfreien“ Gegner von berittener Polizei eskortiert werden. Da sind die Morddrohungen gegen Bahnchef Grube, der inzwischen samt Familie unter Polizeischutz steht. Und da sind die Verkehrsblockierer, die auf die Frage, warum normale Autofahrer, die nichts mit der Auseinandersetzung zu tun haben, von ihnen in Staus gezwungen werden, mit erziehungsdiktatorischer Attitüde antworten: Da könnten diese mal über „S 21“ nachdenken. Und selbstredend heißt das Kinderprogramm der Protestler „Basteln gegen Stuttgart 21“, während sie der Gegenseite vorwerfen, Kinder für ihr Anliegen „einzuspannen“.

Man könnte es die „Arroganz der Ohnmächtigen“ nennen, gegen die die „Arroganz der Mächtigen“, wenn sie nicht gerade Wasserwerfer rollen lassen, fast rührend hilflos wirkt.

Immerhin ergibt sich die CDU einmal nicht dem Zeitgeist, setzt dann aber zielsicher auf ein Projekt ohne Rückenwind, während sie bei der jüngsten, kräftigen demokratischen Brise in Sachen Sarrazin eiligst die Segel reffte. Ist es Dummheit, so hat es doch Methode. Und eine plausible Erklärung, für was konkret in Stuttgart eigentlich die vielen Steuermilliarden vergraben werden, meint sie dem Bürger auch nicht schuldig zu sein. Fazit: Konservativ wäre, den Bahnhof zu erhalten, demokratisch, die Spielregeln zu respektieren. Ergo: Jede Seite ist die falsche.

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