© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Pankraz,
R. Michels und die Ankunft der Bonzen

Haben wir hierzulande eine Demokratie oder eine Bonzokratie? Das fragen viele Politikbeobachter, seitdem sich die von den Medien so sehr beklagte „Politikverdrossenheit“ im Volk deutlich zu einem regelrechten Anti-Politik-Streik steigert. Robert Michels (1876–1936) war es einst, der den Begriff der Bonzokratie in die damals noch junge Soziologie einführte. Heute forschen Koryphäen wie Hans Herbert von Arnim in seiner Spur, und ihre Bücher sind mittlerweile Bestseller, interessieren nicht nur Fachkollegen, sondern ganze große Leserscharen aus allen Schichten und Lagern.

Bonzokratie war für Michels identisch mit einer vom Volk völlig abgehobenen Parteienherrschaft, eben der Herrschaft der „Bonzen“. Das Wort stammte aus Asien, wo es die rotgewandeten buddhistischen Klostermönche bezeichnete, die den ganzen Tag über mit sich selbst beschäftigt schienen und dabei andauernd dumpfe Gongschläge erzeugten: bonz, bonz, bonz. Moderne Parteiherrschaft, so Michels, entwickelt sich im Laufe der Zeit, wenn nichts dagegen unternommen wird, automatisch zur Bonzokratie, nämlich zu einer nur noch die Eigeninteressen der Bonzen verfolgenden Politik.

Die Bonzen-Interessen – so weiter Michels – entfernen sich immer weiter von den wirklichen Gemeininteressen. Anstehende Probleme werden (wenn sie überhaupt je entschieden werden) nur noch unterm Gesichtswinkel des eigenen Machterhalts entschieden. Am Ende steht statt der Demokratie die Oligarchie, ein grelles Zerrbild der altbekannten Aristokratie, wo die etablierten Parteien sich im Grunde weitgehend einig sind und nur noch Schaukämpfe gegeneinander ausfechten. Sie bilden eine Art Closed Shop, eine geschlossene Gesellschaft, die sich mit allen Mitteln gegen Neuzugänge abschottet.

Und je mehr sich die Parteien aus einstigen Ad-hoc-Wahlvereinen zu durchgestylten Superorganisationen mit Programm-Phrasen und angeschlossenem Schulungswesen nebst Parteistiftung und hohem Parteivermögen entwickeln, um so bonziger werden sie. Je mehr sie nach außen immer mehr Funktionen an sich reißen, den Staat wie eine Krake überziehen, um so „lebloser“ (Michels) werden sie nach innen. Alles läuft letztlich nur noch automatisch ab, da die Parteiführung die Richtung von vornherein festgelegt hat.

Schon in der Diktatur, die die Bolschewiken 1917 nach ihrem Putsch in Rußland errichteten, war dieser Prozeß in Lupenreinheit zu verfolgen gewesen. Jede öffentliche Alternativbewegung gegen die Politik der Putschisten wurde von ihnen mit äußerster Brutalität unterbunden, aber der Terror nach außen zog umgehend einen Terror in der eigenen Partei, der KPdSU, nach sich. Bald gab es auch dort nicht die geringsten Diskussionen mehr, nur noch Befehle von oben, die alle Parteimitglieder bei Strafe des eigenen Untergangs zu befolgen hatten.

Lenin nannte das zynisch „demokratischen Zentralismus“. Parteitage verwandelten sich unter diesem Zeichen in bloße Handaufhebemaschinen, wo die Delegierten die vom „Zentralkomitee“ vorbereiteten Beschlüsse blindlings abzusegnen hatten. Zum Zentralkomitee gehörten die höchsten Bonzen der Partei, doch auch sie durften alsbald nur noch die Anweisungen des „Politbüros“ quittieren , faktisch das Sekretariat der Nummer eins, also Lenins bzw. Stalins. Wer sich dagegen auflehnte, Bucharin, Rykow, Kamenew und und und, wurde erschossen. Das politische Leben kam tatsächlich zum Erliegen.

Natürlich will Pankraz nicht im mindesten ein Gleichheitszeichen setzen zwischen der damaligen, von blankem Terror begleiteten Verbonzung  der KPdSU in Moskau und den wahrnehmbaren aktuellen Verbonzungstendenzen bei den herrschenden Parteien in Berlin. Bucharin und Rykow wurden erschossen, Koch, Clement, von Beust & Co. gingen ab in die freie Wirtschaft, das sagt alles. Bemerkenswert bleibt dennoch der hier wie dort zu beobachtende Zug zum alles andere als demokratischen Zentralismus und, damit eng verbunden,  zur politischen Ausdünnung und Farbloswerdung.

Fortschreitende Verbonzung zeigt sich nicht zuletzt am Farbloswerden der obersten Chargen. Man kann etwa manches gegen Roland Koch sagen, aber im Vergleich zu den Gestalten der jetzigen Führungsriege in Berlin, den Pofalla und von Klaeden, wirkte er eindrucksvoll. „Er hatte Ecken und Kanten“, meinten übereinstimmend Gegner wie Freunde seinerzeit beim Rücktritt, und sie meinten es positiv. Es wimmelte geradezu von Ecken und Kanten in den politischen Nachrufen auf Roland Koch, und immer war es positiv gemeint. Ein „Urgestein“ wurde da beerdigt, kein Kieselstein, den die Ströme des Zeitgeists rundgeschliffen hätten.

Selbstverständlich war ein tüchtiges Stück Heuchelei in solchem Lobpreis. Oder, um es freundlicher im Stil Odo Marquards auszudrücken: Da wurde etwas kompensiert. Weil der kantig-eckige Politikertyp, der in entscheidungsfreudigeren Zeiten durchaus wahrnehmbar war, heute im Zeichen der Verbonzung so sehr fehlt, wird er wenigstens herbeigeredet. Man würdigt ihn gewissermaßen als seltene, wertvolle Sammeltasse aus Omas Tagen, die man in der Glasvitrine aufbewahrt.

Das bedeutet freilich nie und nimmer, daß man „den Politiker mit Ecken und Kanten“ wirklich herbeisehnt. Vielmehr gilt: Wer hierzulande in der politischen Arena zugelassen werden will, der darf nicht einmal ein Kieselstein sein, welcher doch immerhin, trotz der fehlenden Ecken, eine feste innere Konsistenz aufweist, eine feste Struktur aus Überzeugungen und zielgenauem Tatendrang. Das heimliche Idealbild des modernen Berliner Politikers hat weder Ecken noch innere Konsistenz. Das zu ihm passende Logo ist die Molluske, die sich in jede ihr sich bietende mediale Öffnung hineinschleimt.

Lebte Robert Michels noch, er würde nicht mehr von einer Verbonzung des Parteienstaats sprechen, sondern von seiner Verschleimung. Erfreulicher ist diese Perspektive keineswegs. Es bleibt dabei: Ecken und Kanten sind nur für Festreden.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen