© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Der Schuster aus der Mittelschicht
Musiktheater: Zur Neuinszenierung von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Komischen Oper Berlin
Jens Knorr

Mit dem Blick auf die leere Bühne beginnt der Abend, dann senkt sich zur Ouvertüre, dem Stahlbad in C-Dur, der Vorhang. Als er sich zum ersten Aufzug wieder öffnet, ist der Raum mit Häusern zugestellt, überragt vom Turm der Katharinenkirche, auf ihre geometrischen Grundformen reduziert. Eine leere Bühne wirkt immer wie ein Versprechen, beschwört sie doch die Idee von Theater als einem leeren Raum, und zum Quintett des dritten Akts scheint es beinahe eingelöst.

Der Schuhmacher und Poet Hans Sachs hat seine große Liebe ab- und seine kleine Intrige entscheidend vorangetrieben, mit welcher er der Tochter des Goldschmieds Pogner und dem Ritter von Stolzing zu beider Glück verhelfen will und den Meistersingern von Nürnberg zu nötiger Strukturreform. Der Lehrbube David, zum Gesellen geschlagen, ist seinem Ziel, die Jungfer Magdalene zu heiraten, wie sie dem ihren, Meist’rin zu werden, ein gutes Stück nähergekommen. Leise rollen die Kulissenhäuser zur Seite, fünf Sänger nehmen verwundert den leeren Raum in Besitz – und wissen mit ihm nichts anzufangen.

Ihre Stimmen stimmen nicht zusammen. Tómas Tómasson (Sachs), Ina Kringelborn (Eva), Marco Jentzsch (Stolzing), Thomas Ebenstein (David) und Karolina Gumos (Magdalene) stehen ihre Partien durch, die einen besser, die anderen schlechter und eine mehr schlecht als recht, hochachtbar alle allemal. Nur suchen sie immerfort mit äußerlich rhetorischen Mitteln auszudrücken, was sie doch zuvörderst mit stimmlichen Mitteln auszudrücken hätten, das, was noch nicht gesagt, aber schon gesungen werden kann. Über das Quintett aber helfen äußerliche Mittel nicht hinweg. Der Raum bleibt musikalisch unerfüllt, das szenische Bild tot. Bald schon schließt ihn die Häuserkulisse gegen die Figuren und ihre Sänger ab.

Inszenieren bedeutet nicht die vordergründige Aktualisierung einer historisch vergangenen Epoche, sondern die Suche nach in die Zukunft weisenden Antizipationen im Vergangenen. Darin liegt der Unterschied zwischen dem Regietheater und dem „Regietheater“, dessen Ausflüsse jenes denunzieren. Das Geschäft von Intendant und Chefregisseur Andreas Homoki ist weder das eine noch das andere.

Ohne Kunst kein Volk,ohne Volk keine Nation

Homokis Regie ist nicht naiv, sondern ignorant. Sie stellt sich nicht den Aporien, in die am Hause Harry Kupfer einst das Realistische Musiktheater felsensteinscher Prägung getrieben hat, die sie nicht einmal wahrnimmt, sie stellt sich nicht den Aporien von Wagners Komponieren und Theaterkonzept, in das er sein Gesellschaftskonzept hinübergerettet hat. Sie verdichtet nicht, sondern entleert die Stücke; der Eindruck ihrer vorgeblichen „Askese“ resultiert nicht aus der Reduktion künstlerischer Mittel auf das Wesentliche, sondern aus der Reduzierung der Stücke auf die künstlerischen Mittel, die dem Regisseur Homoki zur Verfügung stehen. Sein Adressat ist die vom Absturz bedrohte Mittelschicht. Sie darf in seinem Theater jene Bürgerlichkeit simulieren, die sie außerhalb nicht mehr herstellen kann, und Gemeinschaft, die dort längst auseinanderfiel. Seine Existenz hängt an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Er bedient sie weidlich.

Figurenpsychologie und Befindlichkeiten seiner Sänger fallen in eins, Arrangements nicht ins Gewicht. Sie erzählen ja auch nichts, das über den Moment hinausreichte. Man stützt sich mit einer Hand an der Kulisse ab oder am Bühnenportal (nachdenklich) oder den Ellenbogen auf die Schulter des Nebenmanns (kumpelhaft), führt eine Hand zum Kinn oder in den Nacken (sinnend), stützt die Arme in die Hüften (tatkräftig) – hier läuft vieles falsch, nicht nur die falschen Abgänge.

Die Nürnberger, die hier zu schauen sind, stehen dem gesichts- und geschichtslosen Nürnberg des Bühnenbildners Frank Philipp Schlößmann nicht weniger fremd gegenüber als Walter von Stolzing zu Beginn und Ende des ersten Aufzugs. Es scheinen gar nicht ihre Häuser zu sein, zwischen denen sie hindurchhuschen, hinter deren Türen sie verschwinden und die sich einmal plötzlich und unvermittelt hinter ihrem Rücken kreuz und quer legen, nur weil sie zur Scheinfuge vorn wild gestikulieren und einander knuffen.

Die Arbeit mit den Häusern haben andere, unsichtbare Techniker und Komparsen, die Nürnberger selbst sind weder produktiv, noch destruktiv, aber immer gut aufgelegt und aufgeregt: Volk in Bewegung auf deutscher Vorbühne. Handwerker sind die Meister nur noch in der Behauptung des Kostüms von Christine Mayer, und Sachs führt den Hammer im zweiten Aufzug aus dem einzigen Grunde, weil die Schläge von der Partitur vorgeschrieben sind. Ein Handwerker ist auch er nicht.

Dreie fallen aus dem Rahmen von Homokis nivellierender Mittelstandsgesellschaft.

Einer ist der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser. Eben jener Intendant, der sich vor drei Jahren opportunistisch wegduckte, als es galt, den Menschen Rolf Reuter, ehemaliger Generalmusikdirektor und Ehrenmitglied seines Hauses, Dirigent der Inszenierung von 1981, gegen eine Hetzmeute zu verteidigen – nicht dessen Weltanschauung, nicht dessen Tun! –, eben jener Intendant läßt, taub und blind für Ton und Wort, den Sänger Tom Erik Lie die Figur des Beckmesser zu einer Karikatur des Juden im Dorn verzeichnen (und Tómasson die des Sachs zu dem guten Knecht). Der Mann könnte es besser, wenn ein Regisseur es besser wüßte.

Ein anderer ist der Bäcker Fritz Kothner des jungen Bassisten Günter Papendell. Der weiß den tiefen Sinn zu vermitteln, den die Regeln für die Meistersinger hatten und noch haben, weil er die „Leges Tabulaturae“ nicht etwa billigen Effekts wegen herunterrasselt, wie zu oft zu hören, sondern sie ausmusiziert. Sein Singen macht verständlich, warum die Meister die strengen Regeln ihrer Kunst, die geronnene Lebensregeln sind, gegen die Slam Poetry eines abgewirtschafteten Militärs so vehement und, ja, auch dogmatisch, verteidigen. Mit der Kunst der Meister steht und fällt das Gemeinwesen: ohne Kunst kein Volk, ohne Volk keine Nation, ohne Nation kein Staat. Welche Regeln das sind, wer sie bedroht oder verteidigt und warum, wer sie verändert oder durch sie verändert wird, das wäre aus dem Vergangenen in die Gegenwart zu holen gewesen. Für diesmal war davon nur zu hören.

Denn ein dritter ist da noch, Patrick Lange, Chefdirigent seit Mai, der den einfältigen Rahmen der Inszenierung partiell bricht. Zwar unterlaufen ihm bräsige, leer offiziöse Passagen, aber er bringt das Orchester der Komischen Oper dahin, Geschehen und Gesang zu befeuern, vor allem, die Beckmesser zuzuordnende Musik scharf und bedrohlich artikulieren zu lassen. Und der Mann ist erst neunundzwanzig!

Denen auf der Bühne aber kommt Bedrohliches von irgendwo und nirgendwo, nur nicht aus ihrer Mitte. Und sinkt ihr Nürnberg überraschend in Schutt und Asche, dann richten sie’s, yes, we can, in wenigen Takten wieder auf, währenddem vorne einer, als Schuster verkleidet, seinen Wahn-Monolog singt. Einheitsjubel der Abgebildeten für ihre Abbilder zum Ende.

Die nächsten „Meistersinger“-Vorstellungen in der Komischen Oper Berlin, Behrenstraße 55-57, finden statt am 9. Oktober, 7., 13., 27. November,  12. und 26. Dezember. Kartentelefon: 030 / 47 99 74 00 www.komische-oper-berlin.de

Foto: Ina Kringelborn als Eva und Tómas Tómasson als Hans Sachs: Der Raum bleibt musikalisch unerfüllt, das szenische Bild tot

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