© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Irakisches Lehrstück
Karl Heinzen

Am 7. März dieses Jahres haben die irakischen Bürger ein neues Parlament gewählt. Wer von seinem Stimmrecht Gebrauch machte, ging ein hohes Risiko ein. Terroristen hatten angekündigt, den Urnengang mit Anschlägen zu sabotieren. Gleichwohl lag die Wahlbeteiligung mit 62 Prozent auf einem Niveau, das sogar in etablierten westlichen Demokratien mit entspannter Sicherheitslage als zufriedenstellend gilt.

Das Ziel, durch die Parlamentswahl die Bildung einer neuen Regierung auf den Weg zu bringen, wurde bislang jedoch nicht erreicht. Der Irak hat auf diesem Gebiet einen neuen Weltrekord aufgestellt. Dem Land scheint das anhaltende Unvermögen der wesentlichen politischen Kräfte, sich zu verständigen, nicht weiter zu schaden. Zwar ist die Sicherheitslage prekär, die Bürger klagen über Versorgungsengpässe, und Fortschritte im Wiederaufbau der Infrastruktur sind kaum zu erkennen. Es darf allerdings bezweifelt werden, daß eine demokratisch legitimierte Regierung in Amt und Würden daran würde etwas ändern können. Die Probleme des Irak sind wahrscheinlich einfach zu komplex, als daß sie gelöst werden könnten.

Auch in nicht wenigen westlichen Staaten wird die Regierungsbildung immer schwieriger.

Gerade deshalb mag jedoch so mancher Staat, der als „gescheitert“ gilt, aus dem Beispiel Irak Mut schöpfen. Vielleicht ist es ja gar nicht so erstrebenswert, über eine aus Wahlen resultierende Regierung zu verfügen, da es ohne eine solche genauso gut oder genauso schlecht weitergeht.

Auch für den Westen könnte das irakische Lehrstück einen Denkanstoß bieten. In nicht wenigen Staaten, etwa Belgien, den Niederlanden, Italien und allmählich sogar Deutschland, wird die Parteienlandschaft immer vielfältiger und die Bildung einer Koalition immer schwieriger. Könnte dies nicht ein Anlaß dafür sein, sich auf die ursprüngliche Rolle des Parlaments zu besinnen? Diese sah nämlich gar nicht vor, daß aus ihm eine Regierung hervorginge. Seine Kernaufgabe war es vielmehr, eine wie auch immer zustande gekommene Staatsführung zu kontrollieren und in einigen wenigen Punkten, wie etwa der Erhebung von Steuern und der Planung von öffentlichen Ausgaben, mitzuentscheiden. Es dürfte ein Grund für die Politikverdrossenheit sein, daß das Parlament diese kämpferische Aufgabe nicht mehr erfüllt, sondern zum Erfüllungsgehilfen der Regierung herabgesunken ist.

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