© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Ein Abschied ohne Tränen
Altlasten des Zweiten Weltkriegs: Vor zwanzig Jahren begann der Abzug der Sowjetarmee aus Deutschland
Paul Leonhard

Was Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Juli 1990 zu verkünden hatte, ließ die Welt aufhorchen: Die Sowjetunion hatte einem Abzug ihrer Truppen aus der DDR zugestimmt. Die letzte und schwierigste Hürde auf dem Weg zur deutschen Einheit schien genommen. Innerhalb drei bis vier Jahren, so hatte sich die sowjetische Führung bereit erklärt, würden ihre Soldaten Deutschland verlassen haben. „Das bedeutet, daß fünfzig Jahre nach dem Tag, an dem sowjetische Truppen zum ersten Mal das damalige deutsche Reichsgebiet im Kampf im Zweiten Weltkrieg betreten haben, die sowjetischen Soldaten aus Deutschland abziehen werden“, verkündete Kohl, sich der historischen Dimension des Ereignisses bewußt. „Die mächtige Militärgruppierung hat ihre Aufgabe hier erfüllt“, sagte Generalleutnant Leonti Schewzow, Chef der in Sachsen stationierten 1. Gardepanzerarmee. Als Trost wurde dem Großverband, der bis zum 1. Oktober 1992 seine Unterkünfte zu räumen hatte, vom Militärrat ein Rotes Ehrenbanner zum „ewigen Aufbewahren“ verliehen. Bis zum 31. Dezember 1994 sollten die letzten Sowjets bundesdeutschen Boden verlassen haben. Später wurde dieser Termin um vier Monate auf den 31. August 1994 vorverlegt.

Größte Rückzugsbewegung der Militärgeschichte

Es sollte die gigantischste Rückzugsbewegung der Militärgeschichte in Friedenszeiten werden. Und eine gewaltige logistische Leistung. 770.000 Sowjetbürger waren zurück in ihre Heimat zu bringen. Immerhin gehörten zur Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, ab 1989 als Westgruppe der Truppen bezeichnet, zu diesem Zeitpunkt sechs Armeen mit 337.800 Soldaten, 208.400 Zivilbeschäftigten, mehr als 4.000 Kampfpanzern, 8.000 gepanzerten Fahrzeugen, 3.600 Artilleriesystemen, über 1.200 Flugzeugen und Hubschraubern sowie 100.000 Kraftfahrzeugen. Dazu kamen 677.000 Tonnen Munition. Dies alles mußte über die Häfen in Rostock und Mukran auf Rügen oder auf dem Schienenweg durch Polen in ein gerade in verschiedene Bestandteile zerfallendes Land gebracht werden.

Die deutsche Gegenleistung für den Truppenabzug, der auch den Weg des wiedervereinigten Deutschlands unter den Schutzschirm der Nato ermöglichte, war mit 15 Milliarden Mark (etwa 7,5 Milliarden Euro) vergleichsweise gering. Mit dem Geld sollten die Rückführungskosten sowie der Wohnungsbau in der Sowjetunion finanziert werden. Ziel war es, 45.000 Wohnungen zu errichten. Dieses Problem brannte den Russen besonders unter den Nägeln, denn man wußte nicht, wo man die Berufssoldaten und ihre Familien unterbringen sollte. Mehr als die Hälfte besaß keine Wohnung in der Heimat.

Der Truppenabzug wurde in den neuen Bundesländern mit großer Anteilnahme verfolgt. Vielerorts war man erstaunt, welche Massen an Technik aus den abgeriegelten Wäldern und Kasernen rollten. Den DDR-Bürgern galten die Sowjets als Besatzer und als Unterdrücker des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Andererseits bedauerte man die einfachen russischen Soldaten und war schockiert, wie menschenunwürdig deren Behandlung und Unterbringung war. Insbesondere als sich ab Anfang der neunziger Jahre mitunter Kasernentore mit dem roten Stern öffneten und man an „Tagen der offenen Tür“ die Unterkünfte besichtigen durfte.

Den feierlichen Schlußpunkt unter das Kapitel sowjetischer Militärpräsenz in Deutschland setzte am 31. August 1994 ein offizieller Festakt im Berliner Schauspielhaus, zu dem Bundeskanzler Kohl und der russische Präsident Boris Jelzin anwesend waren. (Eine Fußnote der Geschichte ist, daß die Sowjetarmee unter der Bezeichnung „Gaststreitkräfte“ zu diesem Zeitpunkt immerhin knapp vier Jahre auf bundesdeutschem Boden gestanden hatte.) Einen Tag später ließ Generaloberst Matwej Burlakow, Oberkommandierender der Westgruppe, auf dem Flughafen Sperenberg bei Berlin die russische Fahne einholen und stieg in ein Flugzeug nach Moskau. Obwohl Kohl dem russischen Präsidenten versprochen hatte, daß die Verabschiedung „in würdiger und respektvoller Weise“ erfolgen soll, wurden nur die aus Berlin abrückenden Westalliierten mit dem Großen Zapfenstreich von der Bundeswehr verabschiedet. Ein Vorgang, den der russische Schriftsteller Lew Kopelew als „demütigend und ungerecht“ bezeichnete. Dresdens CDU-Oberbürgermeister Herbert Wagner sprach offen von einem Abschied, der „uns nicht mit Trauer erfüllt“.

25 Milliarden Mark für die Sanierung der Sowjetkasernen

Zurück blieben heruntergewirtschaftete Militärstandorte und enorme Umweltschäden. In der DDR hatten die Sowjets 777 Kasernen an 276 Orten einschließlich 47 Flugplätzen und 116 Truppenübungsplätzen, insgesamt rund 2.500 Quadratkilometer, genutzt. Die meisten Standorte waren derart verseucht, daß die Kommunen auf eine Übernahme verzichteten und es dem Bund überlassen blieb, sie zu vermarkten. Auf 25 Milliarden Mark schätzte die Bundesregierung seinerzeit die für eine Sanierung erforderlichen Aufwendungen.

Der Abzug der Sowjetarmee ermöglichte auch Verhandlungen über die Zukunft der Kriegsgräberstätten. Insgesamt 760.000 sowjetische Gräber existieren in Deutschland. In einem bilateralen Vertrag verpflichteten sich Deutschland und Rußland am 16. Dezember 1992, „den Schutz der Kriegsgräber und das dauernde Ruherecht für die Kriegstoten der jeweils anderen Seite in ihrem Hoheitsgebiet“ zu gewährleisten. Ein gleichlautender Vertrag wurde auch mit der Ukraine abgeschlossen. Trotzdem wurden einige Denkmale wie beispielsweise eine handgranatenschwingende Soldatengruppe am Dresdner Albertplatz schnell stillschweigend umgesetzt. Die Berliner müssen dagegen mit den sowjetischen Ehrenmalen in der Schönholzer Heide, im Tiergarten und insbesondere dem martialischen, mit Stalin-Zitaten drapierten im Treptower Park leben. Allein die Sanierung des Ehrenmals in Treptow wird den Bund etwa 8,5 Millionen Euro kosten.

Foto: Soldaten der Sowjetarmee verlassen 1994 Sachsen-Anhalt: Einfache Dienstgrade wurden eher bedauert

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