© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/10 08. Oktober 2010

Deutsche Daseinsverfehlung
Fritz J. Raddatz’ Tagebücher: Die Elite der Republik als „Riesenaufgebot kaputter Typen“
Michael Weber

Im Juli 1991 empfing die Zeit-Redaktion Joschka Fischer zur Blattkritik. Fritz J. Raddatz, als Feuilletonchef 1985 gefeuert, als „freier“ fester Mitarbeiter jedoch weiterhin dabei, war von der „höchst oberflächlichen“ Art des Politikers wenig angetan. Denn mehr als die flapsige Bemerkung, „Kultur ist nicht mein Ding“, sei Fischer zum Feuilleton nicht eingefallen. FJR wollte den grünen Granden damit nicht durchkommen lassen. Es sei doch lamentabel, wie er mit der linken Hand jenen Teil der Zeitung wegwische, der „Tradition, Denken, Theorie, Inhalte“ offeriere. Darauf gestand Fischer pampig, noch nie in der Oper gewesen zu sein, nie ein Theater oder Konzert besucht zu haben. Als Raddatz konsterniert nachhakte, ob es ihn nicht geniere, auf so kärglicher Basis „die Gesellschaft umbauen zu wollen“, erhielt er den ungnädigen Bescheid: Nein, es geniere ihn keineswegs. Mit „Feist, aber leer“ quittierte FJR diesen denkwürdigen Auftritt in seinem Tagebuch. „Feist, aber leer“ – das klebt als Stigma am gesamten Führungspersonal der Republik, wie auf Raddatz’ Tagebuch-Bühne chargiert.

Die Eintragungen, die der Diarist für die Jahre 1982 bis 2001, vom Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls bis zum 11. September 2001 samt seiner Kriegsfolgen, jetzt der Publikumsneugier preisgibt, präsentieren die Elite der späten Bonner und der frühen Berliner Republik, Politiker, Literaten, Journalisten, Künstler, als Gurkentruppe, als „Riesenaufgebot kaputter Typen“. Adorno dürfte nach solcher Bestandsaufnahme als widerlegt gelten: es ist offenbar doch ein falsches im richtigen Leben möglich.

Und zwar vor allem jenen Intellektuellen, die in Raddatz’ comédie humaine die Hauptrollen spielen und in deren Kreisen sich der Autor als „Großkritiker“ seit Jahrzehnten wie ein Fisch im Wasser bewegt. Von Verlogenheit ist dabei viel die Rede, noch mehr von autistischer Egozentrik. Am kräftigsten verkörpert von den Hamburger Meinungsmachern. Der „Pressetycoon“ Rudolf Spiegel-Augstein geistert durch die Notate als wirrer Alberich, ein ewig betrunkener „größenwahnsinniger Zwerg“. In der Zeit regieren der „Koofmich“ Gerd Bucerius, ein „gerissener Vorstadtadvokat“, zusammen mit einer urteilslosen Gräfin Dönhoff, der „Inge Meysel des Journalismus“, einer „dummen Herrenreiterin“, die sich schamlos in den „20. Juli“ hineinlüge, sowie der „bramsig-eitle Kleinbürger“ Helmut Schmidt, der mit „grauslichem Oberlehrergequatsche“ nerve. Der abgehalfterte Stern-Chef Henri Nannen, „kunstunsinnig“, auch als Pensionist „ohne Kontakt zur Außenwelt“, ganz wie wie Raddatz’ andere Bonner Kontakte. Oder „der Mystiker“ Axel Springer, der per Hubschrauber zum Meditieren in die Berge flog. Allesamt „nette Typen, die uns die Welt erklären, wenn nicht gar verbessern wollen“.

Über „meine Freunde, die Literaten“, urteilte Raddatz nicht milder. Daß die rezensierende Konkurrenz, der krakeelende Marcel Reich-Ranicki („beißwütiger Literaturstalinist“), der pathologische Egomane Hans Mayer, der opportunistische Schwafler Walter Jens, im trübsten Licht erscheint, verwundert nicht. Wenn aber Ur-Freund Günter Grass, ungeachtet vieler Sympathiebekundungen, wie eine Symbolfigur bundesdeutscher Daseinsverfehlung wirkt, ist dies als analytischer Kraftakt eines Kritikers, in dessen geistigem Haushalt es an linken Lebenslügen ebensowenig fehlt, wahrlich bemerkenswert. Grass mit seiner 1990 feilgebotenen These, der „deutsche Einheitsstaat“ habe den „Ort des Schreckens Auschwitz“ ermöglicht, also schließe Auschwitz die Vereinigung von BRD und DDR aus, stehe für die Unfähigkeit der hierzulande alle Fäden ziehenden Linken, „wirklich radikal zu denken“.

Eingepuppt und wohlversorgt pflegten sie ein Weltbild aus schuldkultischer Vergangenheitsbewältigung, Volksverachtung (à la „Silber-Zunge“ Richard von Weizsäcker, 1987: „Verblüffend, wie der Begriff ‘Nation’ – auch von ihm – geradezu geleugnet wird“) und Multikulturalismus, das als Kompaß für dieses Gemeinwesen spätestens seit dem Mauerfall nicht mehr taugt. Mit „roten Poesiealbumsprüchen“ und „Legosätzen“ schotte man sich gegen die Zumutungen derer ab, die „kein Recht haben, recht zu haben“ (Adorno). Dabei könnten diese monologisch-narzißtischen Realitätsverweigerer eines Tages in Christa Wolfs Lage geraten, die 1990 fassungslos auf das „Jahrzehnte-Debakel“ ihrer Schriftstellerexistenz in der DDR zurückgeblickt habe.

Wie keine andere öffentliche Diskussion seit dem Streit um den „Asylkompromiß“ (1991/92), illustriert soeben der „Fall Sarrazin“, was Raddatz stets im Auge hat, wenn er die Parallelwelt der Redaktionen, Verlagsbüros und Parteizentralen beschreibt: die unermeßliche „Abgehobenheit“ unserer politisch-medialen Nomenklatura. Diese Tagebücher entlassen den Leser daher wie selbstverständlich mit dem Gefühl, daß bald ein gründlicher Neuanfang fällig werde.

Wenn dem bald 80jährigen Autor auf 900 Seiten trotzdem nicht, wie auf dem Schutzumschlag FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher jubelt, „der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“ gelang, dann ist das systembedingten Scheuklappen geschuldet. Geschichtsblind überzeugter Anhänger der „ewigen These der Kollektivschuld“, unbeirrbar im Ressentiment gegen „dieses Volk“ („Es ändert sich NIE.“), das „sechs Millionen Juden ermordete“, nähert sich Raddatz dem „genetischen“ Determinismus eines Daniel J. Goldhagen und kolportiert naiv-gläubig jeden Unfug über „rechte Gewalt“.

Für weite philosophisch-religiöse (Heidegger – „nie gelesen“), für historisch-politische Gefilde fehlt ihm das Sensorium, ist der Horizont zu eng. Als Tucholsky-Editor, Benn- und Rilke-Biograph ist ihm das 20. Jahrhundert Heimat. Schon im 19. beginnt er zu fremdeln, obwohl er sich einst an Marx und Heine versucht hat. Daß gerade ein Anachronismus, die Einordnung Goethes als Zeitgenosse der Eisenbahn, FJR den Chefsessel in der Zeit kostete, war eben kein Zufall.

Von arg provinzieller Weltsicht zeugt zudem der Unwille, aus dem schiefen Dreieck Hamburg-Kampen-Paris auszubrechen. Der Journalistenalltag in neppigen Restaurants oder auf öden Vernissagen liefert halt nicht den Stoff, an dem Raddatz zum deutschen Balzac hätte reifen können. Gar nicht zu reden von der Maulwurfsperspektive miefiger Homosexualität, ermüdender Reminiszenzen an die schöne Zeit mit dem suizidal geendeten Eckfried (oder war’s Bernd?), unsägliches Gepussel zur Zweisamkeit mit Gerd, oder eher unappetitliche „Privat-Ferkeleien“ aus Altherrensaunen und Pornokinos der Schwulenszene.

Bei morgendlicher Gymnastik auf der Cashmere-Decke, eingehüllt vom Harvestehude-Chic, den 12-Zylinder-Jaguar in der beheizten Garage wissend, übermannen Raddatz Selbstzweifel: bei dieser „Ruhe im Einweckglas“ produziere er nur „Unbeträchtliches“. Dem mag man nicht widersprechen. Ausgenommen davon sind allerdings jene Passagen seiner Tagebücher, die über das „Unbeträchtliche“ als Markenzeichen bundesdeutscher Kultur aufklären.

Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 1982 – 2001. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, gebunden, 939 Seiten, 34,95 Euro

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