© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Jetzt protestiert das Bürgertum
Reportage: In Stuttgart formieren sich die Befürworter des Bahnhofsprojektes
Hinrich Rohbohm

Wahnsinn“, sagt ein etwa 25 Jahre alter Befürworter des Projekts Stuttgart 21. Es ist Donnerstag abend. Auf dem Stuttgarter Marktplatz hat sich eine Menschentraube gebildet. „Wir hatten ja gehofft, daß mehr Leute kommen als letztes Mal. Aber das sind ja doppelt so viel“, freut sich der Mann. „Wir waren anfangs nur ein paar Leute“, erinnert er sich. Inzwischen ist der Donnerstag zum Tag der Projekt-Befürworter geworden. Jede Woche versammeln sie sich hier. 4.000 sind es diesmal. Wenig im Vergleich zu den Projektgegnern. Doch die junge Initiative hat starken Zulauf. „Auf Facebook haben wir die Gegner schon überholt“, verkündet ein Sprecher: 85.000 Unterstützer. Die Gegner des Projektes Stuttgart 21, das die Verlegung des Bahnhofes unter die Erde vorsieht, haben 10.000 weniger. Viele haben weiße Luftballons mitgebracht. „I love Stuttgart 21“ steht drauf, „love“ mit rotem Herzen geschrieben.

Das sind nicht die Bilder, die in den vergangenen Tagen in den Nachrichtensendungen der Fernsehkanäle gelaufen sind. Keine hysterisch-kreischenden Berufsdemonstranten, die Polizeibeamte mit Gegenständen beschmeißen und mit haßerfüllten „Haut ab“-Rufen attackieren. Es ist die Demonstration einer eher demonstrationsscheuen Klientel: dem Bürgertum. Familienväter sind mit Frau und Kindern erschienen, Handwerker sind da, Sportvereine genauso wie Kaufleute, Schüler wie Rentner. Sie seien „erst jetzt aufgewacht“, sagen sie. „Wir dachten, es gibt keine Probleme, alle demokratisch gewählten Gremien haben dem Projekt doch stets zugestimmt“, meint einer.

„Parkschützer“ kritisieren Grüne Polit-Prominenz

Auch die Grünen hatten das getan. Doch die näher rückende Landtagswahl am 27. März kommenden Jahres wirft ihre Schatten voraus. Die überregionale Politik mischt sich ein, will auf den Protestzug gegen das Projekt aufspringen.  Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir und der baden-württembergische Fraktionsvorsitzende der Partei, Winfried Kretschmann, suchen den Weg in die Medien. Zum Unmut von S21-Gegnern. „Die sind mit dem Thema nicht vertraut“, bemängeln sogenannte „Parkschützer“, die im Schloßgarten Zelte aufgebaut und Baumhäuser errichtet haben. Kretschmann spielt die Rolle eines Wertkonservativen, erhofft sich damit Stimmenzuwachs im bürgerlich geprägten Ländle. Die Medien spielen mit, kritische Fragen zu Kretschmanns kommunistischer Vergangenheit bleiben ebenso aus wie zur DKP-Zeit des Sprechers der S21-Gegner Gangolf Stocker (siehe Kasten).

„Die S21-Gegner trauen sisch hier net her“, schwäbelt unterdessen ein Befürworter auf der Donnerstagsdemo des Pro-Lagers. „Aber sonst“, erzählt er weiter, müsse ein Befürworter des Bahnprojekts in bestimmten Gegenden der Neckar-Metropole mit verbalen Haßtiraden rechnen. Der Marktplatz ist inzwischen voll. „Bildet eine Gasse für unsere Läufer“, schallt es durch ein Mikrofon vom Podium herüber. Gemeint ist die Initiative „Laufen für Stuttgart“, die jeden Donnerstag in neongelben Leibchen gut fünf Kilometer durch die Stadt joggt, um für den Bau des neuen Bahnhofs zu demonstrieren. „S 21 macht Sinn“, steht in schwarzer Farbe auf den Hemden geschrieben. Frenetetischer Jubel bricht aus, als die Läufer durch die gebildete Gasse auf das Podium zulaufen. „Wir sind Stuttgart“-Sprechchöre flammen immer wieder aufs neue auf.

„Welches Demokratie- und Rechtsverständnis ist denn eigentlich in den letzten 20 Jahren in unseren Schulen vermittelt worden, wenn Polizeianordnungen und parlamentarische Beschlüsse ignoriert werden und völlig außer Rand und Band geratene Menschen unser Gemeinwesen beschädigen wollen?“ ruft Pfarrer Johannes Bräuchle, Ikone der S21-Befürworter in die Menge. „Unsere Lehrer haben uns schulfrei gegeben und uns aufgefordert, zur Demo gegen den Bahnhofsbau zu gehen“, bestätigt eine Schülerin der Freien Waldorfschule Stuttgart-Kräherwald der JUNGEN FREIHEIT.

Auch die Journalistin Susanne Offenbach zeigt für das Projekt Flagge und spricht auf dem Marktplatz zu den Befürwortern. Ihren Berufsstand kritisiert sie dabei scharf. So würden in den Fernsehnachrichten im Hintergrund stets Bilder der S21-Gegner präsentiert. „Warum werden nicht auch die Befürworter gezeigt?“ fragt sie unter dem Beifall ihrer Zuhörer. Dieses Verhalten der Medien sei entweder Ignoranz oder Absicht. „Beides ist gleichermaßen schlimm“, meint Susanne Offenbach.

Die Befürworter von Stuttgart 21 im Internet  www.prosit21.de

 

Extremistische Vergangenheit

Der Fraktionschef der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, war in den siebziger Jahren Mitglied der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), bevor er Mitbegründer der Grünen in Baden-Württemberg wurde. Der KBW hatte Massenmörder wie den ehemaligen chinesischen KP-Chef Mao Tse-tung und den kambodschanischen Rote-Khmer-Diktator Pol Pot unterstützt. Kretschmann ist nicht der einzige  Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 mit kommunistischen Wurzeln. Gangolf Stocker, der 66 Jahre alte Sprecher der Gegner, war bis 1990 Mitglied in der DKP, ehe er nach der Wende zur PDS wechselte und deren Landesgeschäftsführer wurde.

Foto: Demonstration für Stuttgart 21: Keine hysterischen Berufsdemonstranten

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