© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

CD: Herbstlieder
Noch-nicht, Nicht-mehr
Baal Müller

Wirkliche Dichtung zeichnet sich, im Gegensatz zur Tagesschriftstellerei, dadurch aus, daß sie im Leser – oder besser, da sinnlicher und weniger abstrakt: im Hörer – etwas Allgemeinmenschliches anrührt, dem der Gang der Jahrhunderte nichts anhat. Zu solchem seelischen Grundbestand gehört das herbstliche Thema der Nähe von Schönheit und Vergänglichkeit, das – gleich dem des frühlingshaften Blühens – die deutsche Romantik zu ungezählten Gedichten angeregt hat. Denn während in den „klassischen“ Jahreszeiten Sommer und Winter das Ruhende überwiegt, weisen die Stimmungen in Frühling und Herbst über das eben Erfahrbare hinaus auf ein Noch-nicht oder Nicht-mehr und entsprechen dadurch dem romantischen Lebensgefühl des Sehnsüchtig-Unvollendeten.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß in der kürzlich bei der Edition Apollon erschienenen Vertonung deutscher „Herbstlieder“ Joseph von Eichendorff und Friedrich Rückert mit jeweils vier Liedern den Reigen anführen; ihr Zeitgenosse Hölderlin ist nur mit einem Gedicht aus den Jahren seiner Umnachtung vertreten, Fontane durfte seinen „Herrn von Ribbeck“ beisteuern, und das zwanzigste Jahrhundert wird, etwas spärlich, durch ein Gedicht Rainer Maria Rilkes repräsentiert.

Aus der Reihe bekannter Namen stechen zwei Unbekannte hervor: der zeitgenössische Lyriker Hinrich Ferchel, der an romantische Vorbilder anknüpft, und der heute vergessene märkische Heimatdichter Friedrich Schmidt von Werneuchen (1764–1838), der literaturgeschichtlich durch einige, teils spöttische, teils lobende Erwähnungen bei Goethe und Fontane überlebte. Die bei solchen Anthologien nicht zu vermeidende Beschränkung und etwa das Fehlen so großer Herbstdichter wie Theodor Storm oder Georg Trakl wird allerdings durch die melancholisch-schöne Stimme Wilhelm Tipkensprings sowie sein einfühlsames Gitarren- und Akkordeonspiel mehr als aufgewogen. Tipkenspring besorgte auch die Auswahl der Gedichte, vertonte sie und schrieb für das achtseitige Beiheft ein Vorwort.

Die bewußt auf großen technischen Aufwand verzichtende Vertonung läßt besonders die Lieder Eichendorffs in ihrer hintergründigen Schlichtheit erklingen: „O Herbst, in linden Tagen / Wie hast du rings dein Reich / Phantastisch aufgeschlagen, / So bunt und doch so bleich!“ Oft beginnen sie unmittelbar eingängig: „Es ist nun der Herbst gekommen, / Hat das schöne Sommerkleid / Von den Feldern weggenommen / Und die Blätter ausgestreut“, leiten sodann ins Heidnisch-Naturmagische über („Durch die Felder sieht man fahren. Eine wunderschöne Frau“), um ihr Lobpreis im Heiligen Land zu beschließen, „wo mit ihren goldnen Schwingen / Auf des Benedeiten Gruft / Engel Hosianna singen / Nächtens durch die stille Luft“.

Zur Symbolfülle dieser Lyrik stehen die gänzlich schnörkellose Aussageweise des kranken Hölderlin („Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne“) oder die Blickrichtung Schmidts von Werneuchen auf das Kleine und Vertraute („Die liebe Fensterschwalbe flieht“) in einem merkwürdigen Gegensatz, der allerdings in der ewig-herbstlichen Atmosphäre aufgehoben erscheint.

Herbstlieder Ausgewählt und vertont von Wilhelm Tipkenspring Edition Apollon, 2010 www.edition-apollon.com

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