© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

An der Büchse der Pandora spielte man selbst herum
Vor dem alliierten Militärgerichtshof in Nürnberg wurde Deutschland auch wegen der Entwicklung von biologischen Waffen angeklagt
Wolfgang Kaufmann

Im Oktober 1946 – also vor nunmehr 64 Jahren – wurde vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher auf deutscher Seite verkündet. Wie der nachfolgend verlesenen Urteilsbegründung zu entnehmen ist, ergingen die Todesurteile gegen Hermann Göring und Wilhelm Keitel unter anderem wegen folgender „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“: „Im Juli 1943 wurden Versuche zur Vorbereitung eines bakteriologischen Feldzugs begonnen; Sowjetgefangene wurden zu diesen medizinischen Versuchen verwendet; in der Mehrzahl der Fälle hatten diese den Tod zur Folge.“

Hitler hatte die Entwicklung von Biowaffen verboten

Dieser Vorwurf – im Detail war dann noch von Pestbakterien die Rede – basierte allerdings genauso auf gefälschten Beweisen wie die Behauptung, für das Katyner Massaker an Vertretern der polnischen Elite seien „die Faschisten“ verantwortlich gewesen. Der einzige Beleg, den die russische Seite vorweisen konnte, war nämlich die Aussage des Generalarztes Professor Walter Schreiber, ehemals Chef der Abteilung Wissenschaft und Gesundheitsführung der Heeres-Sanitätsinspektion. Nach dessen Einlassungen hatten Keitel und Göring auf Befehl Hitlers ein offensiv ausgerichtetes deutsches Biowaffenprogramm ins Leben gerufen.

Allerdings stand Schreibers Zeugnis im vollkommenen Widerspruch zur Realität. Wie aus den vorhandenen Quellen eindeutig hervorgeht, hatte Hitler sich mehrmals dezidiert gegen einen Einsatz biologischer Waffen sowie vorbereitende Versuche ausgesprochen; erlaubt war einzig und allein die Suche nach Abwehrmöglichkeiten im Falle eines gegnerischen Angriffes mit Bakterien oder Toxinen. Grund für diese Entscheidung war höchstwahrscheinlich Hitlers Bazillenphobie sowie die Befürchtung, Biowaffen könnten zum Bumerang werden, der den eigenen Truppen letztlich mehr schade als dem Gegner.

Und das lag in der Tat im Bereich des Möglichen, wie die Japaner im Sommer 1942 erfahren mußten. Nachdem ihre geheime Biowaffen-Einheit 731 im Zuge der Chekiang-Offensive Anthrax gegen die chinesischen Truppen eingesetzt hatte, erlitt die vorrückende Tenno-Streitmacht erhebliche Eigenverluste aufgrund von Milzbrand-Infektionen. Schreiber hatte also vorsätzlich die Unwahrheit gesagt, wofür wohl massive Todesdrohungen gegen seine Person verantwortlich waren. Deshalb trauten die sowjetischen Ankläger unter Generalleutnant Roman Rudenko ihrem präparierten Kronzeugen auch keine sonderliche Standfestigkeit zu, was man daran ersehen kann, daß sie ihn noch vor dem Kreuzverhör durch Vertreter der Verteidigung verschwinden ließen: Angeblich befand sich Schreiber schon am Tag nach seiner Aussage vor dem Tribunal auf dem Rückweg in das Kriegsgefangenenlager Krasnogorsk, und die sowjetische Seite hielt es „nicht für ratsam“, den Generalarzt nochmals nach Nürnberg zu bringen.

Doch das war nicht der einzige Justizskandal rund um das angebliche deutsche Biowaffenprogramm. Aufgrund der Recherchen ihrer Alsos-Mission (einer interdisziplinären Expertengruppe zur Erforschung der militärwissenschaftlichen Aktivitäten NS-Deutschlands) war die angloamerikanische Seite nämlich längst detailliert darüber informiert, daß Hitler jedwede Vorbereitung eines Bakterieneinsatzes untersagt hatte und dieses Verbot auch durchzusetzen verstand – der einzige Versuch, den „Führer“ hier auszumanövrieren, ging auf das Konto Himmlers, scheiterte aber überaus kläglich. Doch all das kam in Nürnberg nicht zur Sprache.

Der Grund hierfür dürfte sein, daß man den konstruierten Vorwurf der Sowjets im Raum stehen lassen wollte, um von den eigenen Biowaffenaktivitäten abzulenken bzw. eine Rechtfertigung für selbige zu haben. Immerhin sind sowohl in den USA als auch in England während des Krieges weitreichende Vorbereitungen für den Einsatz von Milzbrand-Sporen und Botulismus-Toxin (BTX) getroffen worden. So hatten die Briten unter anderem hocheffektive Anthrax-Bomben entwickelt und auf der schottischen Insel Gruinard getestet, woraufhin das Eiland bis 1990 kontaminiert blieb. Und selbstverständlich gab es auch ein geheimes sowjetisches Biowaffenprogramm, wobei man sich in der UdSSR eher auf den Einsatz von Pesterregern konzentrierte – schließlich verfügte man hier über genügend Ausgangsmaterial, weil die Seuche periodisch in Stalins Machtbereich grassierte.

US-Biowaffenversuche nach 1945 mit japanischer Hilfe

Im nachfolgenden Nürnberger Ärzteprozeß, der ausschließlich von den Amerikanern geführt wurde, spielten die vorgeblichen deutschen Biowaffenaktivitäten ebenfalls noch eine gewisse Rolle, so zum Beispiel in der Anklage gegen den Stellvertretenden Reichsgesundheitsführer Kurt Blome. Jedoch wurden nun selbst marginale Andeutungen zu einem Fall für die Zensur: In dem von der US-Regierungsdruckerei herausgegebenen Prozeßbericht sind alle Aussagen getilgt, in denen es um Biowaffen geht. Diese finden sich nur noch im offiziellen maschinegeschriebenen Originalprotokoll des Prozesses, von dem ein Exemplar im Staatsarchiv Nürnberg lagert.

Warum die Amerikaner 1947 den Mantel des Schweigens über das Thema ausbreiteten, ist leicht erklärt: Mittlerweile hatten sie sich der Dienste der „bewährten“ japanischen Experten um Shiro Ishii versichert, welche die größten Praxiserfahrungen mit Milzbrand, Pest, Cholera und Co. besaßen. Allerdings um den Preis von Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausenden Menschenleben, weshalb sie nicht in US-Labore, sondern vor Gericht gehört hätten. Angesichts dessen war es natürlich äußerst untunlich, das Thema Biowaffen nochmals vor der Weltöffentlichkeit aufs Tapet zu bringen.

Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (erste Reihe v. l.) und Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel (zweite Reihe v. l.) auf der Anklagebank in Nürnberg 1946 unter dem Symbol für Gefahren durch biologische Erreger: Mit konstruierten Vorwürfen von den eigenen Biowaffenaktivitäten ablenken

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen