© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/10 15. Oktober 2010

Paukfabriken für McBildung
„Outputorientierung“ statt humanistisches Bildungsideal: Das G8-Turbogymnasium
Ellen Kositza

Das Kürzel „G8“ ist ein Teekesselchen-Begriff. Wer keinen Bezug zu Schulkindern hat, wird unter diesem Stichwort eher die Gruppe der acht größten Industriestaaten verstehen als die Verkürzung der Gymnasialstufe von neun auf acht Jahre. In der Hälfte der Bundesländer ist diese Umstellung bereits vollzogen, bis 2016 wird zuletzt auch in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz der zwölfjährige Weg zum Abitur die Regel sein.

Eine persönliche Bemerkung zur G8-Debatte sei vorausgeschickt: Als vor Jahren Klagen von Eltern, Lehrern, Journalisten über die gestraffte gymnasiale Oberstufe laut wurden, erzeugte diese Aufregung bei der Rezensentin ein Kopfschütteln. Was sollte schlecht sein an einem Abschied vom Abi light, das man selbst 1993 – im damals noch „roten“ Hessen“ – anstrengungslos, mit großzügig sich selbst zugeteilten Fehlstunden und weitgehender Nachmittagsfreizeit absolviert hatte? Die Eltern, die nun „mörderischen Streß“, teure Nachhilfestunden und den Fortfall von Hobbys beklagten: Hatten die nicht die falschen Maßstäbe; ja, waren deren Kinder überhaupt gymnasialtauglich? In der DDR, die den 1937 von den Nationalsozialisten eingeführten verkürzten Weg zur Hochschulreife übernommen hatte, absolvierten rund zehn Prozent der Schüler das Abitur auf dem ersten Bildungsweg. In der Bundesrepublik waren es 1970 rund elf Prozent, 1980 bereits 22 Prozent. Heute sind es in Gesamtdeutschland 43 Prozent. Würde durch G8 nicht ein angemessener Maßstab gesetzt werden? Ein Abitur, das Begabten und Leistungswilligen vorbehalten wäre?

G8 zwingt Schüler „geistig und körperlich in die Knie“

Nein, das war die falsche Sicht. G8 ist ein Irrwitz. Selbst für Schüler, die das unreduzierte vorherige, auf acht Jahre verkürzte Pensum ohne Leistungseinbußen bewältigen. Birgitta vom Lehn, selbst dreifache Mutter, stellt die Initiatoren, Architekten, Profiteure, Auswirkungen und Opfer der „Fast-Food-Bildung“ vor. Ausgerechnet die Finanzministerien haben sich bereits 1993 auf die Abschaffung des 13. Schuljahres geeinigt – die Autorin legt ausführlich dar, wie sehr wirtschaftliche Interessen und keine pädagogischen Erwägungen im Vordergrund bei der Verkürzung der Schulzeit standen.

Das humanistische Bildungsideal, einst das Markenzeichen des deutschen Schulsystems, findet in den G8-Lehrplänen keinen Widerhall mehr. Paukbare, prüfungskompatible Kompetenzen („Learning to the test“) bilden das Zentrum des Stoffes, IT statt Kulturgeschichte; Schöngeistiges, schon gar Handwerkliches oder musische Bildung kommen nur vor, sofern die entsprechende „Outputorientierung“ gewährleistet ist. Sahen alte Lehrpläne noch das Lernen von Gedichten vor, so ist dies durch den Punkt „Medien effektiv nutzen und reflektieren“ ersetzt worden.

G8 zwingt die Schüler „geistig und körperlich in die Knie“, urteilt die Autorin, und dieser Niedergang hat vielfältige Formen. Wie schwer ist ein Ranzen bei neun Schulstunden? Wo bleibt die Zeit für den Sportverein, fürs Musizieren und Basteln, gar für den Konfirmandenunterricht, wenn für die Masse an Hausaufgaben selbst das Wochenende einkalkuliert wird? Die Nachfrage nach Nachhilfeunterricht wächst rasant, genau wie die Zahl der Gymnasiasten, die an Eß- und anderen behandlungsbedürftigen psychosomatischen Störungen leiden. Seit 1998 hat sich der Verbrauch des Modemedikaments Ritalin (gegen sogenannte Aufmerksamkeitsstörungen) um 435 Prozent erhöht – ein Zusammenhang mit G8 dürfte außer Frage stehen.

Nahezu minutiös zitiert und entlarvt die Autorin sämtliche Argumente, mit denen Eltern die Umstellung auf G8 schmackhaft gemacht werden sollte. Familien sollten durch die damit de facto entstandene Ganztagsschule entlastet werden, Frauen an den Arbeitsplatz zurückkehren können. Nicht zuletzt würde durch den gewaltigen täglichen Zeitraum, der sich nun für die Schule eröffnete, ein „Beitrag zur Eindämmung einer durch Markt und Medien vorangetragenen Barbarisierung der Zivilgesellschaft“ (Wolfgang Edelstein) geleistet werden. Edelstein war zuvor Lehrer an der Odenwaldschule, andere G8-Architekten arbeiteten vorher bei der „Stiftung Warentest“ – eine schräge Allianz.

Daß eine Vielzahl der Hauptverantwortlichen für diese moderne Form der alten Paukschule kinderlos sei, betont Frau vom Lehn. Ihre Argumente gegen die Ganztagsschul-Ideologie – sie spricht von einer „Standardisierung auf niedrigem Niveau“ – sind brillant! Die Frage bleibt, warum der Aufschrei gegen G8 ein westdeutsches Phänomen geblieben ist. Sachsen und Thüringen (übrigens Pisa-Vorreiter; eine Studie, deren Kategorien nicht nur vom Lehn für zweifelhaft hält) hatten sich nie vom verkürzten Bildungsweg verabschiedet, in den anderen neuen Bundesländern wurde G8 ohne Widerstände eingeführt. Mag sein, daß hier (niedrigere Schülerzahlen, Bestehen einer Infrastruktur mit Mittagsküche, die Autorin erwähnt auch den niedrigen Ausländeranteil) andere Voraussetzungen vorliegen. Mag auch sein, daß man hier einfach mehr erduldet. Schließlich stoßen im Osten der Republik auch innerörtliche Schweinemastanlagen und gigantische Windparks selten auf Protest von Bürgerinitiativen – man ist gewohnt, sich zu fügen.

Birgitta vom Lehns Artikel in der Frankfurter Rundschau und der Welt bestechen durch Prägnanz – dies kann man von ihrem Buch bei aller Stichhaltigkeit ihrer Argumente nicht uneingeschränkt sagen. Zwar hat die Autorin möglicherweise alles gesammelt, was zum Thema G 8 (und weit drum herum) in den vergangenen Jahren an Studien, Artikeln und Leserbriefen veröffentlicht wurde. Wirklich passabel und sprachlich schön aufbereitet wurde das „gesellschaftliche Megathema“ nicht.

Einerseits fallen Expertennamen, Ränge und Funktionen wie dichter Regen, andererseits zitiert vom Lehn teilweise über Seiten redundante und thematisch entlegene Literatur, ohne im Textfluß die Quelle zu nennen. Der Verzicht auf Nebenschauplätze – wozu seitenlang aus Illies’ „Generation Golf“ zitieren, wozu Detailliertes von der Homepage von Edmund Stoiber – und auf das x-te Beispiel zur Verdeutlichung eines Sachverhalts hätten diesem wichtigen Buch gutgetan.

Birgitta vom Lehn: Generation G8. Wie die Turbo- Schule Schüler und Familien ruiniert. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2010, gebunden, 223 Seiten, 14,95 Euro

Foto: G8-Gymnasium als De-facto-Ganztagsschule: Wo bleibt die Zeit für den Sportverein, fürs Musizieren oder gar für den Konfirmandenunterricht?

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