© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Auf dem Sprung nach Westen
EU: Ab Mai 2011 fallen alle bisherigen Barrieren für Arbeitnehmer aus den 2004 beigetretenen EU-Staaten
Paul Leonhard

Der Schienenfahrzeughersteller Bombardier hat seine Scouts bereits nach Polen entsandt. Die Auftragslage für 2011 ist hervorragend. Deswegen werden Facharbeiter für das Werk in der deutsch-polnischen Grenzstadt Görlitz gesucht. Der Dampfturbinenhersteller Siemens ist da schon weiter. Geschickt das Lohngefälle ausnutzend, hat der Münchner Konzern vor Jahren im polnischen Teil der Stadt eine Produktionsstätte gegründet.

Zehntausende Polinnen wiederum sind – oft halblegal – längst als Pflegerinnen oder Haushaltshilfen in deutschen Großstädten tätig. In den polnisch-schlesischen Landkreisen Görlitz (Zgorzelec), Bunzlau (Bolesławiec), Lauban (Lubań) und Löwenberg (Lwówek Śląski) arbeiten nach Angaben der Zeitschrift Region bis zu einem Fünftel der berufstätigen Frauen regelmäßig als Altenpflegerinnen in Deutschland.

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit

„Deutsche Familien suchen vor allem Polinnen, die gut deutsch sprechen und Berufserfahrung vorweisen können“, schreibt das Heft. Wenn ab 1. Mai 2011 Arbeitnehmer aus allen EU-Staaten – mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien – ihren Arbeitsplatz frei wählen können, genießen zwar 70 Millionen Osteuropäer, davon mehr als die Hälfte im erwerbsfähigen Alter, volle Niederlassungsfreiheit in der EU. Ohne Sprachkenntnisse, gute Ausbildung und Integrationswillen werden sie aber kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Die Sicherheitsbranche, Pflegedienste und auch der deutsche Einzelhandel haben Mindestlöhne vereinbart, um sich gegen die billige Konkurrenz aus dem Osten zu schützen. Das größte Problem bereitet Gewerkschaftern und Politikern aber der Bereich Leiharbeit. Einen Mindestlohn für die in dieser Branche in Deutschland 800.000 Beschäftigten fordert Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Ab Mai wird der Mindeststundenlohn für ungelernte Zeitarbeiter in Westdeutschland voraussichtlich 7,79 Euro, in den neuen Bundesländern 6,89 Euro betragen.

So hofft die Branche, die Barrieren für die in den Startlöchern sitzenden osteuropäischen Leiharbeitsfirmen zu erhöhen. Auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der gewerkschaftliche Forderungen nach Lohnuntergrenzen bislang ablehnte, hat sich für einen Mindestlohn in der Zeitarbeit ausgesprochen: „Wir wissen, daß in Polen Tarifverträge mit einem Lohn von 4,80 Euro vorbereitet werden“, begründete Hundt seinen Sinneswandel gegenüber dem Handelsblatt.

Das Magazin Region schätzt die Zahl der ab 2011 auf Arbeitssuche nach Deutschland kommenden Polen auf etwa eine halbe Million. Eine ganze Generation befinde sich auf dem Sprung nach Westen. Aber auch kleine und mittlere Firmen könnten speziell in das Grenzgebiet nach Brandenburg oder Sachsen ausweichen, um dem durch die Wirtschaftskrise härter gewordenen Konkurrenzkampf in Polen zu entgehen. In Polen macht sich inzwischen, wie seit einigen Jahren in den neuen Bundesländern, Facharbeitermangel bemerkbar.

Da die Bundesregierung die möglichen Sperrklauseln ausgereizt hat, hatte sie ausreichend Zeit, aus den Erfahrungen von Großbritannien, den Niederlanden und Irland zu lernen, die sich vorzeitig für die osteuropäischen Arbeitssuchenden geöffnet hatten. Besonders Irland ist dabei interessant, weil hier das Lohnniveau bei niedrigen Sozialabgaben in etwa dem deutschen entspricht. Mehr als eine Million hochmotivierter junger Polen haben dort und in Großbritannien ihr Glück gesucht.

Während die liberale schwedische EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström eine „legale Migration“ aus weiteren Ländern fordert, weil die Wirtschaft angeblich Zuwanderer benötige, lehnt das Hans-Peter Uhl (CSU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, rundweg ab: „Bevor wir noch weitere Menschen aus fremden Kulturen zu uns holen“, sollte man abwarten, wieviel Osteuropäer die bald gegebenen Möglichkeiten nutzen.

Das arbeitgebernahe Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn teilt Uhls Bedenken nicht. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe bisher in keinem westlichen Land eine Masseneinwanderung niedrigqualifizierter Arbeitnehmer bewirkt, so das IZA. Da vor allem gut ausgebildete Arbeitskräfte nach Westen gingen, sei der Druck auf Arbeitsmärkte und Löhne ausgeblieben.

Schweiz reagierte früh auf Öffnung des Arbeitsmarktes

Die Schweiz – durch bilaterale Verträge in den EU-Arbeitsmarkt integriert – hat diesbezüglich ambivalente Erfahrungen gemacht. „Der Anteil an gut qualifizierten Arbeitskräften war unter den neu Zugewanderten überdurchschnittlich hoch und entsprach damit dem Bedarf der Wirtschaft“, heißt es in einem Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft. Um zu verhindern, daß die Lohn- und Arbeitsbedingungen unter Druck geraten, hatte die Schweiz 2004 allerdings vorsorglich verbindliche Minimallöhne und Arbeitsbedingungen eingeführt. Kontrollen ergaben dennoch bei 30 Prozent der Schweizer Arbeitgeber und bei 21 Prozent der Entsendebetriebe Verstöße gegen die Lohnbestimmungen.

Für Frank Martin, Chef der Arbeitsagentur Hessen, ist ist es „durchaus denkbar, daß zum Beispiel ein polnischer Maurer, der zuvor nur als befristeter Saisonarbeiter Spargel gestochen hat, nun versucht, als Maurer auf dem Arbeitsmarkt in Hessen Fuß zu fassen“. Denn tendenziell wanderten Menschen in die Regionen ein, wo es Arbeit gebe, erklärte Martin in der Frankfurter Neuen Presse. Derzeit könne man aber noch keine vermehrte Nachfrage von Arbeitgebern nach osteuropäischen Arbeitskräften feststellen. „Wie sich die osteuropäischen Arbeitnehmer letztendlich wirklich verhalten werden, wissen wir definitiv erst ab dem nächsten Jahr.“

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