© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Zeitschriftenkritik: Mittelweg 36
Altern will gelernt sein
Werner Olles

Die im 19. Jahrgang zweimonatlich erscheinende Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Mittelweg 36, beschäftigt sich in ihrer aktuellen Ausgabe (Oktober/November 2010) mit den Schwerpunktthemen „Alterspolitik“, „Soziologie des Alters“ und „Altersidentität“. Stephan Lessenich beschreibt in seinem Beitrag „Das Alter von heute. Die Ambivalenzen von Alterspolitik und Alter(n)serfahrung“ unter anderem die Unverfügbarkeit des Alters, das sich konsequent unserem Einfluß entzieht, als Erfahrung von Veränderung jedoch unausweichlich ist. Doch gibt es andererseits so gut wie nichts, was – entsprechend dem individuellen und sozialen Gestaltungsspielraum des einzelnen – nicht gestaltet werden kann. Daher sprechen die Alter(n)swissenschaften inzwischen auch von der „Plastizität des Alters“, die von morgendlicher Gymnastik und Gehirntraining bis hin zu räumlicher Mobilität und sozialer Kontaktpflege reicht.

Weil der kollektive Alterungsprozeß, dem sich die spät- und postindustriellen Gesellschaften der westlichen und nördlichen Hemisphäre gegenübersehen, eine demographiegerechte Anpassung individueller Verhaltensweisen erforderlich macht, gerät die kontinuierliche Arbeit am eigenen Alter(n) zum gesellschaftspolitischen Imperativ. So wird zur Zeit an der Universität Jena in zwei Forschungsprojekten untersucht, wie im Zeichen des Übergangs zum demographischen Negativszenario soziale Praktiken des Alters in Diskurse und Programme des „aktiven“ und „produktiven“ Alterns eingebettet sind. Dazu gehört auch, die Ambivalenzen einer Politik zu ergründen, die das Alter prinzipiell als potentiell aktiv, beweglich und nutzbringend konstruiert mit dem erklärten Ziel seiner Reintegration in die Gesellschaft.

Dem steht allerdings im flexiblen Kapitalismus, geprägt durch soziale Mentalitäten, Generationenverhältnisse und Machtbeziehungen, eine Politik der faktischen Abwertung und Marginalisierung von Alterserfahrungen entgegen. Doch der in der langen Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts gewachsene Wohlfahrtskapitalismus, die seit bald einem halben Jahrhundert extrem niedrigen Geburtenraten und die ständig steigende Lebenserwartung haben eine demographische Konstellation herbeigeführt, die das Gesicht unserer Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten dramatisch verändern wird. In der Krise des Sozialstaats wird es daher auch zwingend zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft kommen, von Selbstvorsorge und Fremdvorsorge und einer neuen Spardoktrin, die bereits jetzt deutlich wird in politischen Sonntagsreden.

Bis jetzt – da sind sich die Autoren der Zeitschrift einig – ist die „Aufwertung“ des Alters noch „eine gesellschaftliche Farce“. Immerhin ist das Faktum, daß Deutschland unweigerlich altert, nachdem es jahrzehntelang keine öffentliche Resonanz erfuhr, inzwischen in das gesellschaftliche Bewußtsein vorgedrungen. Möglicherweise etwas zu spät.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen