© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Die Sklaverei wird niemals verschwinden
Literaturbetrieb: Am Samstag erhält Reinhard Jirgl den Büchnerpreis
Sebastian Hennig

Die Verleihung des Büchner-Preises an Reinhard Jirgl ist eine jener erregenden Entscheidungen, mit denen die Preisgeber sich selbst eine überdauernde Ehre erweisen. Die Darmstädter rufen damit wieder einmal in Erinnerung, daß sie kein Literatur-Institut sind, sondern eine Akademie für Sprache und Dichtung.

Seit Reinhard Jirgl 1978 seinen Ingenieursberuf aufgab, lebte er faktisch als freier Schriftsteller, wenn er auch zum Broterwerb an der Berliner Volksbühne als Beleuchter tätig war. Nebenbei erörterte er dort mit Heiner Müller die Schriften Ernst Jüngers, was zugleich den eigenen Anspruch bekundet, in Ost-Berlin als ein Waldgänger zu leben. Nichts fällt auf Jirgl von jenem Zwielicht, welches die „DDR-Schriftsteller“ mit ihrer zum Teil ungebrochenen Popularität umgibt. Während selbst jüngere Autoren mit dem „DDR-Stoff“ wuchern, um sich interessant zu machen, rohe Stücke dieser Scheinidentität sich umhängen, pulverisiert Jirgl diese aufgenötigte Last kraft seiner Prosa. Aus dem wägenden Abstand zum Vergangenen findet er zur Distanz gegenüber jedem Kommenden: „Apropo Zukunft. Weil du nach Amerika gehen wirst: Was aus unserer Vergangenheit dort Gegenwart ist, das wird bald unsere Zukunft sein. Allem voran die-Sklaverei. Die wird !niemals verschwinden, sie sieht nur immer=anders aus: oftmals Der Freiheit so täuschend ähnlich.“

Mühsam selbst errungener künstlerischer Erfolg

Die absichtsvoll fortgesetzte Ost/West-Polarität entlarvt er 2005 im Essay „Von Dämmerung zu Dämmerung oder die Falle der Identifikation“ als das was sie ist, eine subtile Spielart der Volksverhetzung. Es müsse die grundsätzliche Gleichartigkeit verschiedener Erfahrungen in BRD und DDR für ein echtes Zusammensein fruchtbar werden, um so „die sozialisierungsbedingten Mentalitätsdifferenzen in die Zweitrangigkeit zu verweisen. Das zu erkennen entzöge freilich dem eingerasteten Populismus und dessen leitbildgebenden Produkten und Effekten den Boden und machte sie zu dem, was sie sind: ideologischer Giftmüll.“

In die Nachkriegszeit von 1945 bis 1989 fällt in seinen Romanen nicht nur der Schatten der Vergangenheit, der verschleppte Schmerz, die Preßatmung der Ge- und Vertriebenen. Es zeichnen sich zugleich die Umrisse von Ungeheuern einer Zukunft ab, die aus der vorangehenden Gedankenlosigkeit geboren sind. So entsteht das Gefühl, daß das Interim weniger ein Fegefeuer auf dem Weg zum irdischen Paradies ist, als vielmehr eine Nebenhölle mit minderen Hitzegraden, bevor sich wieder feurige Abgründe eröffnen.

Jirgl beschreibt die seit dem Golfkrieg 1991 angelaufene mediale Kriegsvorbereitung die von der Simulation in die Wirklichkeit überleitet: „Schau-Lustige, unmittelbar und wirklich Beteiligte, können somit Zuschauer ihrer eigenen Vernichtung sein!“ Als ein Symbol von großartiger Schrecklichkeit gestaltet er in „Abtrünnig“(2005), wie längst überlebt geglaubte Kriegsspuren aus den Baugruben der neuen Hauptstadt Berlin zutage treten. Die Erde eines urbanen Massengrabes in den Baggerschaufeln, das bedeutet eine Botschaft, die alle architektonische Beredsamkeit in den neuen Machtsymbolen überschreiben wird.

Solche Palimpseste der Geschichte bestimmen alle seine Romane. Wobei das Pergament für die entzündlichen Einritzungen immer die Haut der gegenwärtigen, gewöhnlichen wie eigenwilligen, Menschen ist. Es ist keine politische Phantastik mit reißerischen Effekten als Selbstzweck, ebensowenig wie seine Verwendung des alphanumerischen Codes bloße Artistik ist. Alles ist sorgsam abgewogen. Eigentlich bildet Jirgl nur ab, unter gewissenhafter Vermeidung des Konventionellen. Seine Zurückhaltung bricht sich gelegentlich in Flüchen alttestamentarischen Ausmaßes Bahn, so als käme Tropfen für Tropfen ein Faß zum Überlaufen: „Schwach muß jetzt eine politische Regierung sein, so schwach wie nötig. Deren Repräsen-Tanten sind nur selten Zyniker, vielmehr erscheinen sie wahrhaft durchdrungen von ihren 3, 4 gemein-Plätzen&frasen die sie sich andressiert haben im jahre=langen Kriechgang durch die demokratischen Parteiapparate & die sie nun absondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit, so dasses letzt=endlich Wurscht ist welche BetriebsNudel von welcher Partei ans Telefon geht, sobald aus Washington Die-Weltbank anruft & sagt ?Was gemacht wird.“

Den Automatismus auch von gerechtfertigten Reaktionen auf zugefügte Leiden offenbart er in seinen Romanen als selbstzerstörerisch und entwürdigend für den Menschen. Dementsprechend ist auch der Autor selbst nicht in die durchschaubar konstruierte Spannung zwischen Obrigkeit und Publikum eingetreten, vor 1989 nicht und danach ebensowenig. Als er 1985 sein Romanmanuskript „Mutter Vater Roman“ einreichte, wurde es mit dem Hinweis auf sein „nichtmarxistisches Geschichtsbild“ abgelehnt. Eine Buchausgabe in einem Verlag im Westen kam für ihn ebenfalls nicht in Frage.

Als 1989 die Mauer „von der politischen Lage gewissermaßen unterspült“ wurde, („Weder ein Staatsstreich noch eine Revolution (schon gar keine „sanfte“) hatte dies zuwege gebracht,...“) hatte er sechs fertige Manuskripte in der Schublade. Erst als der Autor 1993 den Döblin-Preis erhielt und mit dem Hanser Verlag einen gewissenhaften Anwalt seines Werkes gefunden hatte, erreichte der Schneckengang seines mühsam selbst errungenen künstlerischen Erfolges einen neuen öffentlichen Wirkungsgrad.

Aber erst 1996 gab er den Brotberuf am Theater auf. Sehr zutreffend hat die Jury angemerkt, daß seine „Sensibilität und Leidenschaft (…) geschützt durch den Firnis eines avantgardistischen Schreibgestus“ ist. Weiter wird die „sinnliche Anschaulichkeit“ betont, die ein „eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet hat.“ Vor diesem Panorama gibt es keinen fixen Punkt, kein Tribunal, auf dem der Leser zu seiten des Autors einen Platz angeboten bekommt.

Jirgls Romane werben nicht um neue Leser

Die Bücher beschreibt er einmal als überdauernde Gegenwelten, „darin die Menschen weitaus weniger automatenhaft erscheinen als in der wachen-Welt Aldi-lebenden=Toten.“ Ihnen wird mehr Wirkungskraft zugestanden als Bildern und Filmen: „Allerdings fällt die Enttäuschung angesichts schlechter Bücher dann auch größer aus, als etwa bei schlechten Filmen. Der-Film ist 1 Produkt der Automatenwelt, & jeglicher Automat, ob Maschine od Mensch, zerstört irgendwann sich selbst od wird von Seinesgleichen zerbrochen. Deshalb sind schlechte Bücher schlimmer als schlechte Bilder u noch schlimmer als heimtückischer Mord. -“

Seine Romane haben ihre Leser und werben, ihrer Natur nach, nicht um neue. Wer sich sein Sensorium für sprachliche Ausdruckswerte mit unserer zeitgenössischen Boulevard-Literatur („Die Sentimentalen sind allemal gefährlicher, als jedes Kriegsministerium.-“), unseren Buchpreisgewinnern, verkleistert hat, der muß nicht eigens von den orthographischen Eigentümlichkeiten Jirgls abgeschreckt werden. Es ist nur eine Frage der Information, ob die wirklich Durstigen zu dieser Quelle finden.

Die Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem bekanntesten deutschen Autorenpreis hat wahrscheinlich vielen weiteren prädestinierten Lesern dieser Romane eine Schneise zu ihnen geschlagen. Reinhard Jirgls Texte verfügen zudem über eine Schönheit, die nicht kunsthandwerklich erzeugt ist, sondern die nur im Gefolge wahrer Benennung und Beschreibung sich ergibt, ganz gleich ob der Gegenstand lieblich oder grauenhaft ist.

In seinem letzten Roman „Die Stille“ heißt es: „Nur die Stille Die Stille: !Die ist eine letzte=eine wirkliche Gefahr.“

 

Georg-Büchner-Preis

Der Georg-Büchner-Preis, erstmals 1923 vergeben, wird in seiner heutigen Form als reiner Literaturpreis seit 1951 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt an Schriftsteller und Dichter verliehen, ,„die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“. Er ist mit 40.000 Euro dotiert. Zu den Preisträgern der Nachkriegszeit gehören unter anderem Gottfried Benn, Erich Kästner, Hans Magnus Enzensberger. Günter Grass, Heinrich Böll, Peter Handke, Christa Wolf, Martin Walser, Heiner Müller, Friedrich Dürrenmatt, Botho Strauß, Wolf Biermann, Martin Mosebach.

Foto: Reinhard Jirgl: Gewissenhafte Vermeidung des Konventionellen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen