© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/10 22. Oktober 2010

Der Flaneur
Inseln des Verfalls
Martin Lichtmesz

Der späte Friedrich Nietzsche wünschte sich von der Musik, daß sie „heiter und tief“ sei, „wie ein Nachmittag im Oktober“. Da muß er wohl an jene Herbsttage gedacht haben, in denen der Himmel noch klar und blau ist, ehe das stumpfe Grau des Novembers einkehrt. Nirgendwo in Berlin erlebe ich diese Oktobernachmittage eindrücklicher als im Treptower Park, in dem es ohnehin scheint, als ob das ganze Jahr hindurch Herbst wäre. Die schwermütige Aura der versunkenen DDR-Welt empfindet man als „Zugereister“ vielleicht unmittelbarer als die Ansässigen. Spaziert man am nordöstlichen Rand des Parks entlang der Spree, begegnet man einer eigentümlichen Mischung aus abgenutzten Industriegebäuden und einer malerischen, menschenleeren und baumreichen Idylle, ausgebreitet in vom Wasser geweiteten und geöffneten Räumen.

„Hinterm Drahtzaun Überreste eines Vergnügungsparks – ein Stück pittoreske Melancholie.“

Da wirkt auch das Prosaische lyrisch: Einer der schönsten Momente auf der Wanderung ist jener, in dem am anderen Ufer der wuchtige, strahlend weiße Block des Zementwerks auf der Köpenicker Chaussee auftaucht. Gegenüber, mitten im wildwuchernden Dschungel des Parks, verrotten hinter einem Drahtzaun die Überreste eines stillgelegten Vergnügungsparks. Zwischen den Wipfeln der hohen Bäume ragt die Spitze eines nicht allzu riesigen Riesenrads hervor. Im Gestrüpp liegt ein großer Plastikdinosaurier wie ein toter Käfer auf dem Rücken, betrauert von drei Meter hohen Schwänen. Rostige Schienen und Gerüste erinnern an abgebaute Liliputbahnen und Ringelspiele. Erhalten sind auch noch die Kassenhäuschen, an denen schon lange keine Kinder mehr vorbeigekommen sind. Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, dieses Stück pittoresker Melancholie aufzuräumen. Ich plädiere für den Erhalt von Inseln des Verfalls, sie mögen zu nichts nütze sein, sie erfreuen aber die Seele, wie Musik.

 

Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.

Georg Christoph  Lichtenberg (1742–1799)

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