© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/10 29. Oktober 2010

Zwischen Macht und Ohnmacht
Milchmarkt: Wenigen Supermarktketten steht eine kriselnde Milchindustrie und eine schwindende Milcherzeugerschicht gegenüber
Harald Ströhlein

Die Zahlen, die das Marktforschungsinstitut Nielsen meldet, taugen für Schlagzeilen: 2009 legte der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) mit einem Wachstum von 0,3 Prozent auf 153,6 Milliarden Euro nur marginal an Umsatz zu. Die Billigketten entwickelten sich im Gegensatz zu den Vorjahren erstmalig nicht positiv – trotz einer um 2,4 Prozent gestiegenen Anzahl von Filialen, heißt es im „Nielsen-Universen 2010“-Report. Drogerie- und Verbrauchermärkte konnten ihren Umsatz dagegen um 3,1 bzw. 1,8 Prozent steigern. Insbesondere waren es Produkte der Weißen Linie, auf die der Verbraucher mit Kaufzurückhaltung reagierten. Während Süßwaren und alkoholfreie Getränke zur stärksten Warenklasse im LEH zählten, brach der Umsatz bei Milch, Joghurt oder Butter um nahezu zehn Prozent ein.

Gleichwohl wäre es übereilt, wollte man sich um Edeka, Rewe, Aldi & Co. sorgen: Gab es 1999 noch acht große Supermarktketten in Deutschland, die gemeinsam über einen Marktanteil von 70 Prozent verfügten, sind es inzwischen nur noch sechs, die nun 90 Prozent des Marktes für sich vereinnahmen. Diese Marktmacht spüren Verbraucher wie Lieferanten gleichermaßen – bei letzteren geht es um die Existenz. Daß sie von den Handelsriesen wie eine Zitrone ausgepreßt werden, ist kein Geheimnis.

Insbesondere schwache Zulieferer wie etwa aus der Milchbranche stehen den verschiedenen Repressalien der Marktmächtigen hilflos gegenüber. Laut einer Studie von 2009 kämpft von den noch etwa 80 Molkereien und Käsereien jedes dritte Unternehmen mit anhaltenden Umsatzrückgängen und Ertragsschwächen. Auffallend ist, daß die Analyse ausnahmslos nur Mittelständlern aus der Privatwirtschaft, die sich im Markt durch ein attraktives und innovatives Produktportfolio hervortun, eine gelungene Erfolgsstrategie attestiert. Ganz anders sieht es bei den in bäuerlicher Hand befindlichen Genossenschaften aus: Über Jahrzehnte herrschte das Dogma, die erwirtschafteten Erträge in einen höheren Milchauszahlungspreis für die Milcherzeuger, die gleichzeitig als Genossenschaftsmitglieder fungieren, umzumünzen. Erlöse für Zukunftsinvestitionen zu verwenden, war bislang eher die Ausnahme. Daß jene Milchverarbeitungsbetriebe mit einem Ergebnis vor Zinsen und Steuern von unter einem Prozent durch fehlende Rücklagen kaum in der Lage sind, die Substanz zu erhalten, verwundert nicht. Gerade jene Unternehmen sind es, die hochgradig von Preisschwankungen abhängig sind und in konsequenter Folge vor Großhandelskunden mit dem Rücken zur Wand stehen.

EU-Politik bringt nur ein Bauernsterben auf Raten

Geht man in der Milchverarbeitungskette einen weiteren Schritt zurück, sieht es keinen Deut besser aus. Die Milchbauern unterliegen einem schonungslosen Strukturwandel. Mittlerweile ist ihre Zahl unter die 100.000er-Marke gesunken. Warum sich der zu niedrige Milchauszahlungspreis nicht beliebig nach oben schrauben läßt, hat einen einfachen Grund: Die Milch – obgleich ein qualitativ und diätetisch hochwertiges Gut – ist beliebig austauschbar, handelbar und noch dazu in rauhen Mengen vorhanden. Mit einer Massenware ohne Identität kann keine nennenswerte Wertschöpfung generiert werden.

Die in Brüssel betriebene EU-Subventionspolitik der Landwirtschaft in Höhe von jährlich fast 50 Milliarden Euro bringt nur ein Bauernsterben auf Raten. Der Geldsegen wird zudem angesichts immer knapper werdender Finanzleistungen nicht von Dauer sein. Auch läßt sich eine Hochpreisstrategie in den Verkaufsregalen nicht beliebig erzwingen. Wie an den Umsatzrückgängen der Weißen Linie deutlich erkennbar, verfügen Verbraucher angesichts überteuert empfundener Ware durchaus über eine Schmerzgrenze. Daß dabei die Interessen darüber, wie Ertrag de facto zu erzielen ist, unter den Parteien völlig anders gelagert sind, verschärft die Situation nur um so mehr: Während der Milcherzeuger versucht, einen möglichst hohen Verkaufspreis zu erwirtschaften, wollen Molkereien und Käsereien einen niedrigen Einkaufspreis, um sich mit ihren Konkurrenten ein erfolgreiches Wettbewerbsduell vor dem Einzelhandel liefern zu können. Diese sind gleichermaßen auf einen möglichst niedrigen Schacherpreis bedacht, um über einen Massenabsatz bei einer halbwegs ordentlichen Spanne ihren Reibach mit dem Endverbraucher zu machen.Um Licht in das undurchschaubare Dunkel des Milchsektors zu bringen, hat der rumänische EU-Agrarkommissar Dacian Cioloş voriges Jahr die „High Level Group“, einen Trupp aus vermeintlichen Milchexperten, ins Leben gerufen. Deren vor wenigen Wochen vorgestellte Expertise brachte jedoch nicht viel mehr als heiße Luft. Die fatale Situation, daß Erzeuger, Verarbeiter und Supermarktketten in einem ohnehin schon kapriziösen Markt nicht auf einer Augenhöhe verhandeln, wurde negiert. Gleichermaßen ist nicht zu erwarten, daß der scharfe Protest des Deutschen Bauernverbandes (DBV), den er im Bundestag gegenüber dem Lebensmitteleinzelhandel wegen dessen Geschäftspraktiken einlegte, einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte. Im Milchmarkt ist an der Rollenverteilung zwischen Macht und Ohnmacht nicht zu rütteln, und eine Lösung dieses Dilemmas ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Foto: Tierischer Produzent im Dienste großer deutscher Lebensmittelketten: Milch ist beliebig austauschbar, handelbar und genug vorhanden

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